Seit zehn Jahren arbeite ich in der klinischen Entwicklung von neuen Medikamenten zur Behandlung von multipler Sklerose (MS). Wir konzipieren klinische Studien und werten die Studiendaten aus, um die Sicherheit und Wirksamkeit potenzieller Medikamente zu bestimmen. Wir prüfen, ob ein neues Medikament wirksamer ist als die bereits verfügbaren. Dazu brauchen wir Instrumente, mit denen wir den Zustand und das Fortschreiten der Erkrankung messen und vergleichen können.
Es ist nicht einfach, die Auswirkungen von MS zu quantifizieren. Wir sind sowohl bei der Selbstbeurteilung durch die Patienten als auch beim Befund durch den Neurologen eingeschränkt. Die biologischen Ursachen von MS sind nicht vollständig geklärt und die Symptome sind von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Zudem korrelieren die Biomarker nicht immer mit der klinischen Symptomatik der Patienten. MS beginnt oft schon in jungen Jahren und ist eine chronische, lebenslange Erkrankung, deren Symptome sich mit der Zeit verändern. Ausserdem gibt es verschiedene Verlaufsformen von multipler Sklerose.
Bei den meisten Menschen verläuft die MS schubförmig: Es treten plötzlich neue Symptome auf oder alte Symptome verschlimmern sich eine Zeit lang, bevor sie teilweise oder vollständig wieder abklingen. Diese Phasen werden als MS-Schübe oder MS-Attacken bezeichnet. Eine weitere Verlaufsform ist die progrediente MS, bei der die Krankheit kontinuierlich fortschreitet. Der Wirksamkeitsnachweis von Medikamenten gegen MS ist daher kompliziert, und die Wissenschaft gewinnt ständig neue Erkenntnisse.
In klinischen Therapiestudien werden die Patienten nach dem Zufallsprinzip in zwei oder mehr Behandlungsgruppen eingeteilt. Die eine Gruppe wird mit dem neuen Medikament behandelt, während die sogenannte Kontrollgruppe ein bereits verfügbares Medikament oder ein Placebo erhält. Dann wird festgelegt, welche Aspekte bei der Therapie der Erkrankung relevant sind und entsprechende Studienendpunkte werden definiert. Dabei handelt es sich um quantifizierbare Messgrössen zum Vergleich der Therapieergebnisse der beiden Gruppen. Die Patienten werden während der Studie regelmässig untersucht und ihre Therapieergebnisse werden aufgezeichnet. Am Ende der Studie vergleichen wir die Gruppen dann anhand der vordefinierten Endpunkte.
Derzeit verwenden Neurologen drei Hauptmessgrössen zur Beurteilung des Krankheitsverlaufs bei MS: Häufigkeit der Schübe, körperliche Behinderung und Biomarker unter anderem aus MRT-Untersuchungen des Gehirns. Diese Messgrössen werden in allen klinischen Studien bei MS als spezifische Endpunkte verwendet, die statistisch ausgewertet werden.
Die Häufigkeit der Krankheitsschübe ist ein wichtiger Endpunkt, denn sie sagt etwas drüber aus, wie die Patienten die Symptomschwankungen erleben, die für schubförmige MS charakteristisch sind. In vielen klinischen Studien ist die Schubhäufigkeit, die als annualisierte Schubrate gemessen wird, ein primärer Endpunkt. Bei progredienter MS, die nicht durch häufige Schübe gekennzeichnet ist, werden andere Endpunkte verwendet.
Die körperliche Behinderung ist eine wichtige Messgrösse, weil bei MS funktionelle Behinderungen mit der Zeit zunehmen. Die körperliche Untersuchung durch einen Neurologen ist nach wie vor der Standard zur Messung der Behinderung und liegt in der Fachkompetenz der Neurologie. Wir Ärzte prüfen mit visuellen, akustischen und haptischen Tests, welche Defizite die Patienten in den Bereichen Kognition, Sehvermögen, Muskelkraft, Koordination, Empfindlichkeit, Gehvermögen und Beweglichkeit aufweisen. Um Patienten miteinander (oder mit sich selbst zu verschiedenen Zeitpunkten) zu vergleichen, haben wir Methoden entwickelt, bei denen Symptome in einem Zahlensystem erfasst werden und dann zu einem einzigen Score zusammengefasst werden. Am häufigsten wird die neurologische Untersuchung Expanded Disability Status Scale als Endpunkt in klinischen Studien zu MS eingesetzt. Letztlich soll dies dazu führen, dass neue Medikamente entwickelt werden, die den Grad der Behinderung stabilisieren oder sogar verringern.
Anfang der 1980er Jahre kam ein neues diagnostisches Verfahren auf: MRT-Untersuchungen des Gehirns. Zum ersten Mal konnten wir Entzündungsherde im Hirn erkennen und durch Vergleiche mit älteren Aufnahmen feststellen, ob neue Läsionen aufgetreten waren. Arzneimittelzulassungsbehörden bevorzugen bei der Beurteilung neuer Medikamente jedoch klinische Messgrössen, die sich eher auf die Symptome der Patienten beziehen, wie MS-Schübe und Grad der Behinderung. Dennoch ist die MRT ein wertvolles Werkzeug sowohl in klinischen Studien als auch in der täglichen Praxis. Die MRT kann die MS-Krankheitsaktivität im Gehirn nachweisen, unabhängig davon, ob diese Aktivität unmittelbar zu körperlichen, kognitiven oder visuellen Symptomen bei der betroffenen Person führt.
Es gibt keine einzelne Messgrösse, die das gesamte Krankheitsbild von MS erfasst. Auf der Grundlage neuer Erkenntnisse über die biologischen Ursachen der Erkrankung und ihre Therapie entwickeln Forscher neue Verfahren, die Schubraten, Behinderungsgrad und Biomarker gleichermassen einschliessen. Ein Beispiel für diesen Fortschritt in der Messung von Therapieergebnissen bei MS ist NEDA, ein Akronym für No Evidence of Disease Activity (keine Evidenz für eine Krankheitsaktivität). Wenn ein Patient über einen bestimmten Zeitraum hinweg keine MS-Schübe hat, der Behinderungsgrad stabil bleibt und die MRT-Untersuchungen keine neuen oder vergrösserten Läsionen im Gehirn zeigen, so hat dieser Patient NEDA erreicht. Es dient als einfacher „Ja/Nein“-Endpunkt in klinischen Studien, die untersuchen, ob ein neues Medikament den Anteil der Patienten mit NEDA im Vergleich zu einem bereits verfügbaren Medikament erhöht. Neue kombinierte Endpunkte, die uns in klinischen Studien ein umfassenderes Bild von der Krankheit vermitteln, finden vielleicht auch Eingang in die klinische Praxis und helfen Ärzten bei Therapieentscheidungen.
Unsere Messmethoden sind schon viel besser geworden, aber es bleibt noch viel zu tun. Unser Verständnis der MS und unsere Methoden zu ihrer Messung stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander: Ein besseres Verständnis führt zu besseren Methoden, und bessere Methoden führen zu einem besseren Verständnis. Aber vielleicht ist es zu optimistisch, auf eine exakte Messmethode zu hoffen, da die Krankheit viel zu komplex ist.
Der Mathematiker John Tukey, der einen grundlegenden Algorithmus für die MRT-Untersuchung von MS entwickelt hat, brachte dies auf den Punkt: „Besser eine ungefähre Antwort auf die richtige Frage, die oft vage ist, als eine exakte Antwort auf eine falsche Frage, die noch genauer zu formulieren ist.“
Wir lernen ständig dazu, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Messung von Therapieergebnissen. Bei Roche arbeiten wir für den Fortschritt in beiden Bereichen.
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Wie wir die Methoden definieren, mit denen die Krankheitsaktivität bei multipler Skerose gemessen wird
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