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Das Wissen in Medizin und Forschung wird immer größer und komplexer, so dass eine einzelne Institution oder Person dieses unmöglich selbst überblicken kann. Vielmehr müssen Experten über Fach- und Institutionengrenzen hinweg zusammenarbeiten, um den enormen Wissensschatz zum Wohle der Patientenversorgung zu nutzen. Beispielsweise indem Wissenschaft und Industrie enger als bisher miteinander kooperieren und neue Methoden der Zusammenarbeit wie Co-Creation anwenden. Mit Prof. Dr. med. Sven Perner und Dr. Alexandra Farfsing haben wir zwei Experten befragt, was Co-Creation genau ist und welche Chancen sie der Medizin eröffnet.

Ein Interview mit Dr. Alexandra Farfsing, Lead Co-Creation und strategische Geschäftsentwicklung Roche Diagnostics und Prof. Dr. med. Sven Perner, Direktor der Pathologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein Campus Lübeck und des Leibniz Forschungszentrums Borstel

Prof. Dr. med. Sven Perner

FRCPath, Geschäftsführer des Zentrums für ambulante Onkologie in Tübingen, hat in Ulm Humanmedizin studiert und am Universitätsklinikum Ulm seine Facharztausbildung im Bereich Pathologie begonnen. Danach folgten Forschungsaufenthalte an der Harvard Medical School in Boston und in New York am Weill Cornell Medical Center. Anschließend hat er am Uniklinikum Tübingen als Leiter einer Emmy-Noether-Arbeitsgruppe seine Facharztausbildung abgeschlossen und war Professor und Oberarzt am Universitätsklinikum in Bonn, wo er ein neues Institut für Prostatakarzinom etablierte. Bevor er in seine jetzige Funktion wechselte, war er als Direktor für Pathologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck und dem Forschungszentrum Borstel tätig.

info@oncology-tuebingen.de

Dr. Alexandra Farfsing

Lead Co-Creation und strategische Geschäftsentwicklung Roche Diagnostics, hat Molekularbiologie in Bonn, Marburg und Oxford studiert und promovierte am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Bei Roche hat sie eine dezidierte Schnittstellen- und Netzwerkfunktion inne, mit dem Ziel Diagnostics und Pharma lokal und global im Sinne der Personalisierten Medizin zu vernetzen.

alexandra.farfsing@roche.com

Frau Dr. Farfsing, Co-Creation klingt kreativ, cool und „ko-operativ“ – doch was genau ist Co-Creation? Und in welchen Industrien wird Co-Creation schon angewendet?

Alexandra Farfsing: Ja, das stimmt, Co-Creation ist aktuell ein trendiges Wort. Das Konzept dahinter haben aber noch nicht viele Unternehmen aufgegriffen, gerade in der Gesundheitsindustrie ist Roche hier Vorreiter. Co-Creation ist definiert als eine Methode des gemeinsamen Gestaltens, als eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen verschiedenen Partnern mit dem Ziel, Ideen gemeinsam zu entwickeln und zum Erfolg zu bringen. Die Methode lässt Innovationsprozesse zu und beteiligt Anwender frühzeitig am Prozess. Das heißt, neue Ideen müssen gleichsam einen Prozess bestehen und werden auf diese Weise schon in der Entstehungsphase mit den Bedürfnissen des Marktes abgestimmt.

Können Sie konkrete Beispiele nennen, bei denen das so gemacht wurde?

Alexandra Farfsing: Ein bekanntes Beispiel ist die Lego Community. Eigentlich aus der Not heraus geboren – es mangelte schlicht an neuen kreativen Impulsen – hat Lego seine erwachsenen Fans zusammengetrommelt, die Adult Fans of Lego. Diese Community entwickelte neue Ideen und bewertete diese. Konnte eine neue Produktidee mehr als 10.000 Likes gewinnen, gingen diese Lego-Sets in Produktion. Auch Ikea hat eine solche kooperative Methode erfolgreich angewendet und Kinder in den Entwicklungsprozess eingebunden. Sie lieferten die Malvorlagen für neue Kuscheltiere. Und Starbucks ließ seine Kunden neue Geschmackssorten kreieren und bewerten.

In der Medizin geht es aber um mehr als Spiele oder Geschmacksfragen...

Alexandra Farfsing: Zweifellos. Der Ansatz von Co-Creation ist aber gerade in der Medizin, die sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt hat, äußerst vielversprechend. Bei Roche sind in unserem aktuellen Projekt mit Sven Perner speziell Mediziner im Bereich Pathologie unsere Adressaten. Sie sind alle offen für Innovationen und neue Denkansätze und möchten gemeinsam mit uns als Industrie die Zukunft der Pathologie gestalten.

Professor Perner, vor welchen Herausforderungen steht die Pathologie heute? Und wie spielt Co-Creation da hinein?

Sven Perner: Das Fach Pathologie hat auf jeden Fall schon viele, auch fundamentale Veränderungen erlebt. Als eigenständiges Fach gibt es sie erst seit etwa 150 Jahren. Damals war Pathologie die klinische Obduktion – was heute weniger als 5 Prozent unserer Arbeit ausmacht. Später kam die mikroskopische Gewebediagnostik dazu, erst im Rahmen von Obduktionen, aber in der Folge auch an Proben von lebenden Menschen. Dann die Elektronenmikroskopie, die Immunhistochemie und in den letzten 10 bis 15 Jahren die Molekularpathologie. Der nächste große Schritt ist die Digitalisierung in der Pathologie, beispielsweise durch KI-Unterstützung bei der Bilderkennung und Diagnosefindung.

Die große Herausforderung in der Pathologie heute liegt gerade in ihrer enorm gestiegenen Bedeutung als klinisches Fach. Denn das heißt auch, dass die Anforderungen an uns immer größer werden, quantitativ wie qualitativ. Wir sind viel stärker im direkten Austausch mit den behandelnden Ärzten, etwa im Rahmen von Tumorboards. Zur Illustration: Wir haben mittlerweile am Universitätsklinikum in Lübeck rund 18 Tumorkonferenzen pro Woche, in denen jeder einzelne Patient multidisziplinär besprochen wird. Mit den stetig steigenden Anforderungen kommen wir in Zukunft nur klar, wenn wir intelligente Softwarelösungen haben. Es gibt verschiedene Anbieter, die hier Plattformen entwickeln, unter anderem Roche.

Was ist nun das Neue an Co-Creation in der Medizin und der medizinischen Diagnostik? Welche Erwartungen knüpfen sich daran?

Sven Perner: Bisher ist es so, dass Firmen ein Produkt entwickeln und die Anwender können das fertige Produkt dann kaufen. Der Arzt kann also lediglich entscheiden, ob ihm das Produkt hilft und ob er es sich leisten kann. Als Roche auf mich zukam mit der Einladung zum ersten Co-Creation-Workshop, habe ich sofort zugesagt. Denn ich bin überzeugt, dass es die Medizin voranbringt, wenn Firmen mit den Kunden die Produktentwicklung gemeinsam betreiben. So kommt man schneller zum Ziel und wir Ärzte erhalten genau die Hilfsmittel, die wir brauchen, um unsere Patienten bestmöglich zu versorgen. Für mich ist das der Weg der Zukunft.

Alexandra Farfsing: Co-Creation in der Medizin steckt noch in Kinderschuhen. In unserer Branche hat das bisher noch so gut wie niemand gemacht. Aber die Idee dahinter ist bestechend und wir haben uns gesagt: Lasst uns die Zukunft der Medizin gemeinsam gestalten – mit den Ärzten, mit den Anwendern und mit den Patienten. Wir sind aktuell noch in der Pilotphase, wir testen jeden Tag neu aus, was geht und was nicht, wir lernen ständig und gehen wieder einen Schritt weiter. Was wir aber jetzt schon deutlich sehen: Es ist wichtig, die Erfahrungen der Anwender aus dem klinischen Alltag frühzeitig einzubinden und deren Feedback zügig den globalen Entwicklungseinheiten weiterzugeben. Mittlerweile sind wir so weit, dass die Entwicklungseinheiten Teil unserer Co-Creation Community sind. Co-Creation kann uns dabei helfen, Produkte aus der Medizin zu personalisieren, ein höheres Qualitätslevel zu erreichen, Fehler früher zu erkennen und so Misserfolge zu vermeiden.

Wie läuft ein Co-Creation Prozess konkret ab? Wie finden sich die Partner?

Alexandra Farfsing: Co-Creation heißt bei uns, dass wir uns in großer Expertenrunde mindestens zweimal im Jahr zu einem Workshop persönlich treffen. Dazwischen gibt es virtuelle Formate und Austausch in kleineren Expertenteams. Über unseren Außendienst haben wir potenziellen Interessenten aus dem Bereich Pathologie das Konzept vorgestellt. Die Resonanz war erstaunlich. Schnell ist eine Community entstanden aus Ärzten, aber auch aus Fachleuten angrenzender Gebiete wie KI, Mathematik oder IT. Mittlerweile fragen uns teilnehmende Ärzte sogar schon, ob sie weitere interessierte Kollegen einladen können. Und das ist wirklich das größte Kompliment für unseren Co-Creation-Ansatz. Genau dieses Engagement aus der Community heraus haben wir uns gewünscht: Dass Teilnehmer ihre Begeisterung weitertragen und sagen, wir holen jetzt alle zu unserem Co-Creation-Vorhaben dazu, die Lust haben, zu entwickeln und zu gestalten.

Sven Perner: Ich kann diese ansteckende Offenheit nur bestätigen. Wenn wir uns zum Co-Creation-Workshop getroffen haben, dann ging beim Abendessen die Diskussion munter weiter und wir haben überlegt, wer könnte hier noch mitmachen? Wer hat Spaß daran, out-of-the-box zu denken? Co-Creation ist sehr spannend und befruchtend für alle Beteiligten. Das läuft alles im Dialog und auf Augenhöhe und das schätzen meine Kollegen und ich sehr.

An welchen Themen haben Sie denn bisher gearbeitet? Gibt es schon bald neue gemeinsam entwickelte Co-Creation-Produkte?

Alexandra Farfsing: Aktuell spielt natürlich die Corona-Situation eine große Rolle. Das spiegelte sich sowohl in unseren Workshopformaten als auch in den Themen wider. Wir mussten unsere Workshops vorübergehend auf rein virtuelle Formate umstellen. Und wir haben gemerkt, dass das gerade auch ein wichtiges Anliegen für die Ärzte war: Wie funktioniert mobiles Arbeiten in der Pathologie, welche virtuellen Formate könnten da hilfreich sein, um remote zu befunden? Wir haben dann einen Zusatzworkshop zum Thema Mobile Working, New Reality und New Work gemacht.

Bleiben wir kurz beim Stichwort New Work: Inwiefern ist das für die Medizin relevant?

Sven Perner: New Work ist in der Tat ein großes Thema in der Medizin allgemein und speziell in der Pathologie. Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der Wunsch nach Teilzeitarbeit werden immer wichtiger und damit die Möglichkeit, beispielsweise auch mal vom Homeoffice aus zu befunden. Dafür muss aber die Qualität der Daten stimmen. Die ganze Diagnostik muss qualitativ so gut sein, dass der Pathologe von egal wo – Kongress oder zuhause – die Befundung machen kann. Ähnliches gilt für Radiologen, die für ihre Auswertungen nicht zwingend im Radiologiezentrum sitzen müssten. Auch Anamnese- und Therapiegespräche könnten per Telemedizin stattfinden. Was da in Zukunft in Sachen New Work alles möglich sein wird, können wir heute noch gar nicht absehen. Aber es ist ein notwendiger Prozess, um dem Ärztemangel wirksam zu begegnen.

Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft wagen: Was wird noch kommen und wie wird die Medizin der Zukunft aussehen?

Sven Perner: Es geht darum, schneller und gleichzeitig besser zu werden. Hier erhoffen wir uns konkret, schnellere Fortschritte als bisher zu erzielen. Was das für die Zukunft der Pathologie genau heißt, ist schwierig zu sagen. Sie wird auf jeden Fall personalisierter werden. Es wird auf mehr Zusammenarbeit zwischen Industrie und Medizinern hinauslaufen. Wir werden eine viel stärkere Digitalisierung erfahren. Und in unseren Entscheidungen, die auch jeden Tag komplexer werden, werden wir ganz sicher eine Unterstützung durch KI-Algorithmen haben.

Alexandra Farfsing: Vernetzt, digital, personalisiert und plattformbasiert – das sind für mich die wesentlichen Stichworte zur Medizin der Zukunft. Ein Beispiel sind hier die Tumorboards. Unterschiedliche Experten an verschiedenen Hospitälern und Standorten müssen sich möglichst unkompliziert austauschen können. Deshalb müssen wir an Plattformen arbeiten, die diese Fach- und Standortgrenzen überschreitende Vernetzung gut leisten können. Um solche einfachen und effektiven Diagnostiklösungen entwickeln zu können, ist Co-Creation die geeignete Methode. Und es braucht Mut, Offenheit und Vertrauen, mutig an neue Dinge herangehen. Offen sein für Neues und nicht an Bestehendem festhalten. Und vertrauensvoll zusammenarbeiten, denn ohne Vertrauen brauchen wir gar nicht anzufangen. Es geht darum, den Markt gemeinsam zu gestalten – ohne dass wir ein Konzept aus irgendeiner Schublade ziehen. Für den Co-Creation-Prozess gibt es keinen Masterplan – aber ein gemeinsames Ziel: ”Gemeinsam für unsere Patienten!” Das gesamte Gesundheitssystem muss so einfach gestaltet sein, dass jeder Zugang zu guter Versorgung, zu guter Diagnostik und Therapie hat.

Disclaimer: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in den Texten nur das generische Maskulinum verwendet. Es sind damit alle Personen unabhängig von ihrem Geschlecht gemeint.

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