Die Martini-Klinik wurde 2004 als 100-prozentige Tochter des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) gegründet. Heute ist sie mit mehr als 2.600 Prostatakrebsoperationen pro Jahr weltweit das größte Zentrum zur operativen Behandlung des Prostatakarzinoms. Das Konzept der Martini-Klinik beruht auf drei Säulen: der Spezialisierung auf ein Krankheitsbild, dem Faculty-System nach US-amerikanischem Vorbild mit zehn gleichberechtigten leitenden urologischen Fachärzt:innen sowie der umfassende Sammlung und Auswertung von Daten. Prof. Dr. Markus Graefen und Dr. Detlef Loppow sprechen im Interview darüber, inwiefern diese Säulen die verbesserten Behandlungsergebnisse in der Martini-Klinik begründen. Im Zentrum stehen die Fragen, welche Daten wie gesammelt werden und auf welche Weise das Wissen aus diesen Daten dabei hilft, die Qualität des Behandlungsergebnisses für den Patienten kontinuierlich weiter zu verbessern.
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Markus Graefen und Dr. Detlef Loppow, beide Martini-Klinik, Hamburg
Prof. Dr. Markus Graefen
ist Ärztlicher Leiter an der Martini-Klinik am UKE GmbH. Er hat in Bonn Humanmedizin studiert und seine Facharztausbildung für Urologie in Edinburgh, Düsseldorf und Hamburg abgeschlossen. Seit 1995 ist Graefen Mitarbeiter des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf mit dem klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkt der Diagnostik und Therapie des Prostatakarzinoms. Nach einem Forschungsaufenthalt am Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York habilitierte er sich im Fach Urologie, wechselte 2004 vom UKE in die Martini-Klinik und wurde dort 2010 zum Ärztlichen Leiter ernannt.
Dr. Detlef Loppow
Seit 2012 ist Dr. Loppow Geschäftsführer der Martini-Klinik am UKE GmbH. Nach seinem Chemiestudium hat er in Hamburg am Institut für Biochemie und Lebensmittelchemie promoviert. Es folgten Stationen als Marketingassistent und Marketingleiter bei der ISG Intermed Service GmbH, bevor er 2011 als kaufmännischer Leiter des Instituts für Pathologie ans Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf wechselte.
Herr Dr. Loppow, seit wann erheben Sie systematisch Daten an der Martini-Klinik? Und warum haben Sie überhaupt damit angefangen?
Detlef Loppow: Die Geschichte ging eigentlich los, bevor die Martini-Klinik gegründet wurde. 1991 kam Prof. Dr. Hartwig Huland als Ordinarius für Urologie an das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Ein Jahr später hat er angefangen, Daten zu erheben und in einer Excel-Tabelle zu sammeln, zunächst aus rein wissenschaftlichem Interesse, um Datengrundlagen für Publikationen zu schaffen. Aber dann hat man sehr schnell gesehen, dass die Daten auch zur internen Qualitätsmessung genutzt werden können, um so ärztliches Handeln mittels Benchmarking stetig verbessern zu können. Dank einer Spende des Unternehmers Werner Otto konnten dann Hartwig Huland und Markus Graefen zusammen mit IT-Expert:innen die alte Excel-Tabelle zu einer richtigen Datenbank umbauen – früher "Uro-Data", seit Gründung der Martini-Klinik heißt sie "Martini-Data".
Prof. Graefen, welche Daten erheben Sie für Martini-Data? Und wie gehen Sie konkret vor?
Markus Graefen: Für jede Datenerhebung ist es wichtig, die Ausgangssituation zu kennen. Als wir mit dem Datensammeln angefangen haben, war eine Tumor-OP meist noch eine radikale OP. Das Credo war, man muss den Tumor möglichst weiträumig entfernen, nur dann hat der Patient eine Überlebenschance. Prof. Huland hat das infrage gestellt. Er war davon überzeugt, dass man bestimmte funktionelle Strukturen, Gefäß- und Nervenstränge erhalten und so die Lebensqualität der Patienten erheblich verbessern kann. Um diese These zu stützen, brauchten wir jedoch valide Daten. Wir sind von der Frage ausgegangen: Was wird aus meinem Patienten nach der Operation? Also im Detail: Wie ist das onkologische Ergebnis? Gab es Komplikationen? Wie entwickelten sich die funktionellen Ergebnisse rund um die Themen Inkontinenz und Impotenz, sprich, die Lebensqualität der Patienten. In unserer Datenbank Martini-Data dokumentieren wir nun alle administrativen und klinischen Daten sowie die Ergebnisse aus unseren Patientenbefragungen. Über das reine Sammeln der Daten hinaus beschäftigen wir an der Martini-Klinik sechs Mitarbeitende in unserer Outcome Study Group. Deren Aufgabe ist es, die Daten zu überprüfen, Plausibilitätskontrollen vorzunehmen und alle Daten in eine vergleichbare, auswertbare Form zu bringen.
Detlef Loppow: Tatsächlich begleiten wir unsere Patienten ein Leben lang. Das beginnt vor der Operation mit dem sogenannten EPIC-26-Fragebogen. Das sind 26 Fragen, mit denen wir zunächst die Ausgangssituation unserer Patienten erheben. Es geht um prostataspezifische Fragestellungen wie erektile Dysfunktion, Kontinenz oder familiäres Vorkommen von Prostata-Karzinomen. Wir fragen aber auch nach Ernährung, Sport und Nebenerkrankungen. Vier Wochen nach der OP legen wir zunächst den Fokus auf Komplikationen und Lebensqualität. Außerdem fragen wir nach der Kontinenzsituation. Sechs Monate nach der OP kommt nochmal der EPIC-26-Fragenkatalog zum Einsatz. Jetzt wollen wir wissen, ob es Spätkomplikationen gab und ob zusätzliche Therapien wie Hormonbehandlung oder Bestrahlung notwendig waren. Diesen Fragebogen verschicken wir von nun an für die folgenden 10 Jahre jährlich. Aber auch danach bleiben wir mit den Patienten in Kontakt, reduzieren unsere Fragen jedoch auf den onkologischen Outcome.
Wie reagieren denn die Patienten auf diese intensive Befragung? Und wie motivieren Sie sie dazu, langfristig zu kooperieren?
Detlef Loppow: Auch danach haben wir unsere Patienten befragt und erfahren, wie sehr sie es schätzen, dass „Ihr Operateur“ bzw. die Klinik auch Jahre nach der OP mit ihnen in Verbindung bleibt und sich für ihr Wohlergehen interessiert. Diese Akzeptanz sehen wir auch an den hohen Rücklaufquoten unserer Fragebögen. Wir haben über 30.000 Patienten in der Datenbank und gut 70 % von ihnen schicken die ausgefüllten Fragebögen zurück. Dabei spielt es sicher auch eine Rolle, dass wir transparent machen, was mit den Patientendaten passiert. Jedes Jahr kurz vor Weihnachten schreiben wir alle Patienten an, bedanken uns für die zur Verfügung gestellten Daten und informieren darüber, welche neuen Erkenntnisse wir aus ihnen gewinnen konnten, welche Publikationen daraus resultierten und wie nachfolgende Patienten davon profitieren konnten. Dieser Brief kommt extrem gut an, weil sich für den Patienten erschließt, warum er diese Fragebögen immer wieder ausfüllt.
Das sind beträchtliche Investitionen und sehr viel Aufwand. Wie können Sie die Daten im klinischen Alltag gewinnbringend nutzen?
Markus Graefen: Der entscheidende Punkt ist, dass wir über die Auseinandersetzung mit den von uns erhobenen Daten auch zu Veränderungen und Verbesserungen bei den Therapieformen gekommen sind. Für uns heißt das: Wir müssen die Realität sehen, um für unsere Patienten besser zu werden. Und die erhobenen Daten sind der notwendige Weg dazu. Den kumulierten Wissensgewinn innerhalb der Institution nutzen wir aber auch, um jeden einzelnen Operateur individuell zu trainieren. Auf diese Weise ermöglichen wir extrem steile Lernkurven. Wir haben alle sechs Monate eine Sitzung, in der wir die individuell erzielten Ergebnisqualitäten eines jeden Operateurs vergleichen. Das geht nur in einer sehr vertrauensvollen Atmosphäre und man muss Ärzt:innen haben, die sich diesem Vergleich stellen können und wollen, um am Ende besser für ihre Patienten zu werden. Stagniert die Ergebnisqualität eines Operateurs oder entwickelt sich gar nach unten, dann wird er bei den kommenden Operationen von einem erfahrenen Kollegen begleitet. Dieses systematische Lernen bezieht übrigens alle Klinikärzt:innen mit ein. Auch Klinikleiter Hartwig Huland hat sich diesem Vergleich gestellt und immer ein- bis zweimal im Jahr mit jedem Operateur gemeinsam operiert.
Detlef Loppow: Prof. Huland war immer daran interessiert, zu lernen und sich selbst weiter zu verbessern. Ich erinnere mich an einen jungen Arzt, der an unsere Klinik kam und dessen Patienten bereits eine Woche nach der OP weniger Vorlagen benötigten, um Urintropfen aufzufangen. Zuerst haben alle gesagt, das ist unser neuer junger Kollege, der bekommt die einfachen Fälle. Dem widersprach aber unser Biostatistiker, denn die Verteilung von einfachen und schwierigen Fällen war für alle Operateure gleich. Da fühlte sich Herr Huland herausgefordert. Was konnte dieser junge Kollege besser als er selbst? Er assistierte ihm und entdeckte eine kleine Abweichung in der OP-Technik, die er dann zunächst selbst und danach auch alle anderen Operateure der Klinik anwandten. Das ist die Art des Innovationstransfers in der Martini-Klinik: Einer macht zunächst etwas anders, wir sehen an den erhobenen Daten, dass es besser für den Patienten ist – und dann lernen alle und ziehen nach.
Markus Graefen: Ich will ein weiteres Beispiel geben: Die Leitlinien haben früher besagt, dass die Prostata nur entfernt wird, wenn die Lymphknoten frei von Tumorzellen sind. Nun gab es Einzelfälle, in denen die Prostata herausgenommen wurde und sich schließlich doch Metastasen in den Lymphknoten fanden. Wir haben dann in unsere Daten geschaut und gesehen, dass die Patienten, bei denen wir die Prostata, also die Haupttumorlast, trotz Metastasierung in den Lymphknoten entfernt hatten, einen beträchtlichen Überlebensvorteil zeigten. Das wurde dann von anderen Gruppen in unabhängigen Studien bestätigt, so dass die Leitlinien schließlich geändert wurden. Ohne kontrollierte Abweichung vom Standard gibt es auch keine Verbesserung.
Lässt sich diese datenbasierte Verbesserung auch in konkreten Zahlen zeigen?
Markus Graefen: Ein Beispiel ist hier die intraoperative Schnellschnitt-Diagnostik, bei der wir noch während der OP von unseren Patholog:innen prüfen lassen, ob die Ränder des entfernten Gewebes tumorfrei sind. Das erlaubt uns in vielen Fällen, nerverhaltend und damit schonender zu operieren. Bei den organbegrenzten Tumoren (pT2) konnten wir so den Nerverhalt von 92 auf 99 % steigern. Beim Stadium pT3b – da hat der Tumor die Samenblase bereits infiltriert – ist der Nerverhalt sogar von 40 auf 88 % hochgegangen. Das wirkt sich enorm auf die Lebensqualität der Patienten aus. Wenn man sich die Daten aus den DRGs vom Statistischen Bundesamt anschaut, dann sind in ganz Deutschland 2012 nur 32,8 % der Patienten nerverhaltend operiert worden.
Inwiefern können auch andere Kliniken von Ihren Erkenntnissen profitieren?
Detlef Loppow: Da ist zum einen unser EPIC-26-Fragebogen, der mittlerweile verpflichtend verlangt wird, wenn sich Krankenhäuser von Onkozert als Prostatakrebszentrum zertifizieren lassen wollen. Außerdem haben wir maßgeblich am ICHOM-Standardset für das lokalisierte Prostatakarzinom mitgearbeitet. ICHOM, also das International Consortium for Health Outcome Measurement in Boston, ist eine Non-Profit-Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, für die aktuell 50 wichtigsten Krankheitsbilder Standardsets für die medizinische Ergebnismessung zu entwickeln. Sie dienen dazu, bei der Erhebung der Eigeneinschätzungen der Patienten (sogenannte Patient Reported Outcome Measures, kurz PROMs) vergleichbare Ergebnisse zu erhalten.
Welche Pläne haben Sie für die Zukunft der Martini-Klinik?
Markus Graefen: Wir werden den Status als Integrated Practice Unit weiter ausbauen, um unsere Patienten umfassend und vor allem bestmöglich betreuen zu können. In unserem Neubau, den wir nächstes Jahr in Betrieb nehmen werden, können wir Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung die Durchführung von ambulanten Chemotherapien anbieten. Wir werden eine eigene MRT-Einheit haben und wir richten ein OP-nahes Labor ein, um unsere Forschung im Bereich nervschonender Operationsmethoden weiter voranzutreiben. Wir werden uns sicherlich auch in puncto OP-Verfahren noch weiterentwickeln, was sich insbesondere auf die Liegezeit auswirken und sie verkürzen wird. Das ist wichtig, denn die demografische Entwicklung sagt uns voraus, dass zwischen 2025 und 2035 30 % der heute Erwerbstätigen in Rente gehen werden. Wir werden in Zukunft also immer weniger Personal haben und müssen zusehen, wie wir diese Versorgungslücke schließen können. Das müssen wir über Automatisierung, Ambulantisierung und Effizienzsteigerung ausgleichen und dabei gleichzeitig die Behandlungsqualität für die Patienten weiter verbessern.
Detlef Loppow: Eine weitere Effizienzsteigerung erscheint mir schwer vorstellbar. Einzig die Einführung des Value Based Health Care Ansatzes ins Deutsche Gesundheitssystem könnte dazu beitragen. Sie setzt die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Ergebnisqualitätsmessung voraus – zumindest da, wo es Sinn ergibt. Ebenso die Schaffung einer dritten, unabhängigen Institution, die die Ergebnisqualitätsdaten prüft und verhindert, dass die Leistungserbringer ihre Daten missbräuchlich verwenden. Wenn die zu erwartende Ergebnisqualität für eine Behandlung dann der Bevölkerung transparent und verständlich dargestellt würde, könnten sich Patienten für die Leistungserbringer entscheiden, die verbindlich eine hohe Ergebnisqualität erwarten lassen. Entscheidend ist, dass die 30 % der schlechtesten Ergebnisqualität aus dem Markt gedrängt werden! Hier ist die Politik gefragt! Ich glaube, dass 30 % der Kliniken mit der schlechtesten Ergebnisqualität rund 50 % des auf dem Gesundheitsmarkt verfügbaren Geldes verbrauchen. Wir müssen Qualität unabhängig und objektiv messen, um für Patienten das bestmögliche Ergebnis zu erreichen und ein nachhaltig finanzierbares Gesundheitssystem zu schaffen.
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