Schritt für Schritt gelingt es, COVID-19 besser zu verstehen. Während die vom SARS-CoV-2-Erreger verursachte Infektionskrankheit noch im März als Lungenerkrankung galt, ist inzwischen klar: Das Krankheitsbild ist weitaus komplexer.
Ein Beitrag von Frank Gast, Leitung Medical & Scientifc Affairs
Zu den häufigsten Symptomen von COVID-19 zählen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Allerdings kann man nicht von einem typischen Krankheitsbild sprechen. Symptomatik und Schwere von COVID-19 sind individuell unterschiedlich – sie reichen von symptomlosen Verläufen bis hin zu tödlichen Komplikationen. Laut RKI zeigen 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf.1
Das Risiko für eine schwere Erkrankung steigt ab etwa 50 Jahren stetig an. Der Altersdurchschnitt der Verstorbenen liegt bei 82 Jahren – über 85% der Todesfälle waren 70 Jahre alt oder älter.
Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus, Adipositas, Krebs, chronische Leber- und Lungenkrankheiten und bestimmte Formen der Immunsuppression sowie Rauchen gehören ebenso zu den Risikofaktoren wie das Alter und männliches Geschlecht. Prädiktoren für einen schweren Verlauf sind eine ausgeprägte Lymphozytopenie und die Erhöhung der Biomarker CRP, D-Dimer, LDH und Troponin.2 Auch die Blutgruppe ist mit der Schwere des Verlaufs assoziiert, Blutgruppe A birgt offenbar ein höheres Risiko für Atemwegsprobleme.3
Um in die Zelle zu gelangen, nutzt SARS-CoV-2 ein Glykoprotein: „Spike“. Dieses bindet an den Wirtszellenrezeptor ACE-2 (Angiotensin-converting-enzyme-2) und ermöglicht so den Zelleintritt.5 Neben dem ACE-2-Rezeptor werden verschiedene andere Proteine als Mediatoren für den Zelleintritt des Pathogens diskutiert, unter anderem TMPRSS2, CD147 sowie Sialinsäurerezeptoren. Auch Kathepsin B und L sind offenbar an der Pathogenese beteiligt.4
Es werden eine Reihe unterschiedlicher pathogenetischer Ursachen im Zusammenhang mit der Entstehung von COVID-19 beschrieben. Neben direkten zytopathischen Effekten sind überschießende Immunreaktionen bis hin zum Zytokinsturm (also der Überproduktion inflammatorischer Zytokine wie IL-6) zu beobachten. Häufig findet man auch Durchblutungsstörungen in Folge einer Hyperkoagulopathie.1,4,12
Sehr häufig betrifft SARS-CoV-2 die Lunge, daneben kann es aber auch andere Organsysteme wie Herz, Nieren und das Zentrale Nervensystem (ZNS) schädigen.1,4 Die Manifestationsorte sind unter anderem von der Dichte der ACE-2-Rezeptoren in den Geweben abhängig – der Eintrittspforte für das Virus in die Zelle. Zwar ist in der Lunge eine besonders hohe Dichte an ACE-2 zu finden doch ist der ACE-2-Rezeptor auch in anderen Geweben vorhanden.1,4 Es wird vermutet, dass Endothelzellen mit ACE-2-Rezeptor-Expression eine Schlüsselrolle bei der Pathogenese von COVID-19 und der Manifestation in den unterschiedlichen Organen spielen.4,5
Aus einer COVID-19-assoziierten Atemwegsinfektion kann sich – meist in der zweiten Krankheitswoche – eine Pneumonie entwickeln, die sich zum beatmungspflichtigen, akuten Lungenversagen (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) verschlechtern kann. In einigen Fällen ist sogar eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) erforderlich.1
Im Mai dieses Jahres lieferte eine Wuppertaler Forschergruppe Erklärungsansätze für die teils sehr schweren Krankheitsverläufe. In einer kleineren Autosiestudie verglichen die Wissenschaftler die Lungen von an COVID-19 verstorbenen Personen mit den Lungen von Personen, die an ARDS infolge der Influenza A(H1N1) verstorben waren. Sie wiesen bei den COVID-19-Patienten signifikant häufiger vaskuläre Schädigungen, wie beispielsweise schwere Endothelverletzungen und Schädigungen der Zellmembran, nach. Histologische Untersuchungen offenbarten Thrombosen in den Blutgefäßen und Mikroangiopathien. Auffällig häufig beobachteten die Wissenschaftler eine spezielle Form der Gefäßneubildung, die „intussuszeptive Angiogenese“. Sie wird durch T-Zellen vermittelt und hat bestimmte Entzündungsprozesse zur Folge.7 Medizinisch sei dieser Ablauf vergleichbar mit einer starken Abstoßungsreaktion nach Organtransplantation, wie in einer Pressemitteilung der Helios Universitätsklinikums Wuppertal vom 22.05.2020 zu lesen ist.
Die Wissenschaftler um PD Dr. Ackermann fanden in den Lungen von Patienten mit COVID-19 und Influenza deutlich mehr ACE-2-positive Endothelzellen als in nicht-infizierten Kontrollen. Zudem war eine Änderung in der Morphologie der Endothelzellen zu beobachten.6
Empfehlungen zur VTE*-Prophylaxe bei ambulanten und stationären Patienten mit SARS-CoV-2 Infektion (COVID-19) gibt die Gesellschaft für Thrombose und Hämostaseforschung e. V. (GTH) in einem Rundschreiben vom 21.04.2020.9
Ein intaktes vaskuläres Endothel ist eine potente antithrombotische und antientzündliche Barriere. In einem Review von Mitchel8 wird der Verlust der Schutzfunktion des Endotheliums bei COVID-19 als Auslöser für Thrombosen und Entzündungsvorgänge („Thrombo-Inflammation“) beschrieben, der zum akuten Lungenversagen führen kann. Demnach kommt es zur Neutrophilen- und Lymphozyteninfiltration in fibröse Thromben und zur Bildung von NETs (neutrophil extracellular traps). Multiple thrombo-inflammatorische Prozesse scheinen dabei zusammenzuwirken.8
Mehrere antithrombotische Therapien sind in der Diskussion, unter anderem direkte antithrombotische Therapien, Faktor-Xa-Inhibitoren und Kontaktaktivierungsinhibitoren.8
Der „Ständige Arbeitskreis der Kompetenz- und Behandlungszentren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger" am Robert Koch-Institut (STAKOB) warnte Anfang Juli vor einem gehäuften Auftreten thromboembolischer Ereignisse auch bei jungen Patienten ohne Risikofaktoren und Vorerkrankungen. Hohe bzw. steigende D-Dimer-Werte könnten auf thromboembolische Komplikationen hinweisen. Sie sind mit einer deutlich erhöhten Sterblichkeit assoziiert.2
Immer wieder hört man im Zusammenhang mit COVID-19 von kardialen Komplikationen. Andererseits gelten kardiovaskuläre Vorerkrankungen als Risikofaktor für einen schweren Verlauf. Bisher sind die Pathomechanismen, die dieser Beobachtung zugrunde liegen, nicht eindeutig identifiziert. Es wird vermutet, dass COVID-19 eine direkte Schädigung der Kardiomyozyten, systemische Entzündungsprozesse, Fibrose, Interferon- und Zytokin-vermittelte Immunantworten verursacht und zur Destabilisierung von Plaques führt. Wie in der Lunge, so spielen auch bei COVID-19-induzierten Herzschädigungen ACE-2-Rezeptoren eine zentrale Rolle.10
Forscherinnen und Forscher des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) wiesen nach, dass sich SARS-CoV-2 auch im Herzgewebe vermehrt. Die Arbeitsgruppe vermutet, dass das Virus nicht die Kardiomyocyten selbst, sondern interstitielle Zellen oder Makrophagen infiziert.11 Die Wissenschaftler untersuchten dazu 39 Patienten. In 24 der 39 untersuchten Patienten wiesen die Wissenschaftler das Virus nach, in 16 Fällen in klinisch relevanten Mengen (von der Arbeitsgruppe definiert als >1000 Kopien pro µg RNA). Bei den 5 Patienten mit den höchsten Viruslasten wiesen sie sowohl den Plus- als auch Minus-Strang des Erbguts nach – ein Zeichen für die Vermehrungsfähigkeit des Virus.11
Kardiale Komplikationen erhöhen die Sterblichkeit, wie eine Untersuchung von Shi et al.12 zeigt. Die Wissenschaftler untersuchten 416 Patienten mit COVID-19, von denen 19,7% an myokardialen Erkrankungen litten. Sie fanden in der Gruppe der Vorerkrankten eine signifikant höhere Sterblichkeitsrate (51,2%) gegenüber der Gruppe von Patienten, die keine Herz-Vorerkrankungen aufwiesen.12
Eine Nierenbeteiligung wird mit rund 40% der Klinikeinweisungen ebenfalls häufig beobachtet und reicht von einer milden Proteinurie bis hin zum fortschreitenden akuten Nierenverssagen ("Acute Kidney Injury", AKI). Das betrifft in Europa und den USA rund 20–40% der Patienten, die eine intensivmedizinische Versorgung benötigen. Da es bei COVID-19 oft sehr früh zu einer Nierenbeteiligung kommt, könnten Nierenparameter dazu beitragen, den Verlauf der Erkrankung vorherzusagen.13
Die Pathophysiologie hinter den renalen Effekten ist komplex. So wurden im renalen Endothel Viruspartikel nachgewiesen, was darauf hindeutet, dass eine Virämie die Endothelschädigung verursacht und (Mit)-Auslöser renaler Komplikationen sein könnte. Das Virus scheint über ACE-2-Rezeptoren aber auch direkt in die Nierenzellen einzudringen und dort verschiedene pathophysiologische Prozesse in Gang zu setzen. Ein weiterer Mechanismus, der im Zusammenhang mit der Nierenbeteiligung diskutiert wird, ist der Zytokinsturm.13
Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass sich SARS-CoV-2 unter bestimmten Umständen auch Zugang zum ZNS verschaffen kann. Ob bzw. wie das Virus dabei die Blut-Hirn-Schranke überwindet, ist noch unklar. Verschiedene Mechanismen werden diskutiert – darunter die Schädigung der Blut-Hirnschranke selbst oder die Infektion von peripheren Nerven, entlang deren Strukturen das Virus in das ZNS gelangen könnte.14
Einige Rätsel um die neuartige Coronavirus-Erkrankung COVID-19 konnten inzwischen gelöst werden, viele Fragen sind jedoch noch offen. Dass es sich bei COVID-19 um eine nicht zu unterschätzende und äußerst komplexe Multiorganerkrankung handelt – daran dürften nach dem heutigen Stand der Wissenschaft allerdings kaum mehr Zweifel bestehen.
* VTE-Prophylaxe: Prophylaxe der venösen Thromboembolie
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText6. Stand 10.07.2020. Zugriff am 22.07.2020.
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