Digitale Marker in der Diagnostik:

„Algorithmen sind mehr als die Summe der Einzeldaten“

Labore produzieren riesige Mengen an Gesundheitsdaten – ein großes Potenzial. Bisher verwendete Methoden reichen jedoch nicht immer aus, um dieses zu heben und einen konkreten medizinischen Nutzen daraus zu generieren. Algorithmen können hierbei zu positiven Veränderungen führen. Sie strukturieren die Daten, suchen spezifische Muster und generieren neue Erkenntnisse aus bestehenden Daten, um Antworten auf medizinische Fragestellungen zu finden, so z.B. der GAAD Score. Prof. Dr. Ralf Lichtinghagen hat den

GAAD Algorithmus zur Unterstützung der Diagnose bei hepatozellulärem Karzinom (HCC) als erster Anwender in Deutschland in seinem Labor erprobt. Mit unserer Redaktion sprach er über den medizinischen Wert digitaler Marker, über die Veränderungen, die diese für die ärztliche Arbeit bedeuten und darüber, was er in der Zukunft auf dem Gebiet digitaler Marker erwartet.

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Prof. Dr. rer. nat. Ralf Lichtinghagen promovierte nach einem Chemie- und Biologiestudium an der Ruhr-Universität Bochum im Bereich der Neurobiochemie und bildete sich anschließend an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zum Klinischen Chemiker/European Specialist in Laboratory Medicine (EuSpLM) weiter. Darüber hinaus qualifizierte er sich zum MBA im Bereich Betriebswirtschaft für Mediziner. Aktuell ist er im Zentrallabor der MHH neben seinen Aufgaben in der Patient:innenversorgung und Forschung auch als Lehrbeauftragter für Klinische Chemie/Laboratoriumsdiagnostik im Medizinstudiengang tätig. Darüber hinaus ist Lichtinghagen akademischer Leiter der dortigen MTLA-Schule.

Ein Interview mit Prof. Dr. rer. nat. Ralf Lichtinghagen

Herr Professor Lichtinghagen, was sind digitale Marker und welchen medizinischen Mehrwert bieten sie?

Ralf Lichtinghagen: Digitale Marker sind validierte Algorithmen, welche die erfassten Gesundheitsdaten strukturieren und verarbeiten, um auf dieser Basis eine verbesserte Aussage zum Gesundheitszustand von Patient:innen  zu machen. Dabei leisten die Algorithmen somit mehr als die Summe der Einzeldaten. Nehmen wir zum Beispiel den GAAD Score. Dieser Algorithmus kombiniert die quantitativen Messungen der Biomarker AFP (alpha-Fetoprotein) und PIVKA-II (Protein induziert durch Vitamin-K-Abwesenheit) im Blutserum mit Geschlecht und Alter der Patient:innen. Dadurch gewährt er präzisere Einblicke in deren Gesundheitszustand, als wenn man diese Parameter einzeln betrachten würde.


Sie haben den GAAD Algorithmus im medizinischen Alltag getestet.¹ Wie hat er sich bewährt?

Ralf Lichtinghagen: Wir haben den GAAD Algorithmus bei Patient:innen mit chronischen Lebererkrankungen eingesetzt. Dieses Kollektiv zeigt ein deutlich erhöhtes Risiko, an einem hepatozellulären Karzinom, kurz HCC, zu erkranken. Und wie bei allen Krebsarten ist auch hier Früherkennung wichtig. Für das HCC bedeutet das: Die 5-Jahres-Überlebensrate ist mit 40 bis 70 Prozent deutlich günstiger, wenn die Krankheit im Frühstadium diagnostiziert wird. Im Spätstadium ist die Krankheit kaum noch behandelbar, die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei weniger als fünf Prozent. Das Problem ist jedoch, dass HCC-Frühstadien asymptomatisch sind und wir diese Patient:innen häufig nicht rechtzeitig identifizieren konnten. Metaanalysen aus verschiedenen Studien haben gezeigt, dass die bisherigen Methoden eine große diagnostische Lücke offenlassen. So haben Ultraschall-Untersuchungen bei HCC im Frühstadium lediglich eine Sensitivität von etwa 45 Prozent. Kombiniert man Ultraschall mit dem AFP-Wert, lässt sich immerhin eine Sensitivität von etwas über 60 Prozent erreichen.² Mit dem GAAD Score als alleinige diagnostische Methode ließ sich die Sensitivität zumindest schon auf ca. 70 Prozent steigern.³ Setzt man jedoch den GAAD Score zusammen mit der Sonographie ein, können wir bis zu 90 Prozent der HCC-Frühstadien aufspüren. Das ist zur bisherigen Vorgehensweise ein Sensitivitätsgewinn von etwa 30 Prozent und bedeutet für weitere Patient:innen, dass sie in einem potenziell kurativen Stadium behandelt werden können.


In welchen Bereichen lassen sich Algorithmen noch sinnvoll einsetzen?

Ralf Lichtinghagen: Auf einen Nenner gebracht: Überall da, wo wir es mit bestimmten Risikogruppen zu tun haben, die wir überwachen wollen, um schlimmere Erkrankungen zu vermeiden. Bei chronischen Lebererkrankungen könnten das zum Beispiel auch digitale Marker sein, die bereits das Fibroseausmaß abschätzen können und damit Hinweise auf das Fortschreiten der Erkrankung geben, bevor es zum HCC kommt. Gerade in der Onkologie gibt es viele potenzielle Einsatzfelder, da wir es bei der Krebsprävention häufig mit Risikogruppen zu tun haben: Das Prostatakarzinom betrifft vor allem Männer ab einem Alter von 55 Jahren. Und wir haben erbliche Dispositionen beispielsweise beim Mamma-Karzinom oder dem Schilddrüsen-Karzinom. Über die Onkologie hinaus sehe ich aber auch ein großes Potenzial für Algorithmen in der Kardiologie oder bei Infektionskrankheiten.


Wie verändert sich die Arbeit des Arztes durch den Einsatz von Algorithmen?

Ralf Lichtinghagen: Wir können dank Algorithmen viele Patient:innen in einem frühen Krankheitsstadium diagnostizieren, in dem sie noch gut behandelbar sind – das ist die gute Nachricht und eine große Chance für die behandelnden Ärzt:innen und ihre Patient:innen. Die Spezifität solcher Algorithmen liegt jedoch nie bei 100 Prozent, was unweigerlich bedeutet, dass wir auch Patient:innen mit einem falsch positiven Ergebnis haben werden. Auch damit müssen Ärzt:innen umgehen und ggf. weitergehende Untersuchungen, wie etwa CT-Scans, veranlassen. Überhaupt sind Kliniker:innen angesichts der zahlreichen neuen diagnostischen Möglichkeiten enorm gefordert. Um hier am Ball zu bleiben, müssen sie mit den Labormediziner:innen einen engen Austausch pflegen und ihr Wissen untereinander vernetzen und vertiefen.


Welche Voraussetzungen braucht es, damit Algorithmen Teil der Laborroutine werden?

Ralf Lichtinghagen: Die Einbindung in die Laborroutine ist ganz wesentlich, damit sich Algorithmen in der alltäglichen Praxis durchsetzen können. Beim GAAD Algorithmus läuft das so: Ich messe über meine Laborstraße die für den Algorithmus notwendigen Parameter AFP und PIVKA-II. Diese Daten werden dann ins LIS übertragen und von dort zusammen mit weiteren Daten wie Alter und Geschlecht zur

navify Algorithm Suite weitergeleitet. Hier wird der Score berechnet und dann in unser LIS zurückübermittelt. Das heißt, der GAAD Score läuft wie ein ganz normaler Laborwert einfach mit, ohne zusätzlichen Aufwand. Wichtige Voraussetzung ist natürlich, dass die Algorithmen validiert und somit IVDR-konform eingesetzt werden können.


Fragen zur Finanzierung und Vergütung sind auch in der Medizin ein Dauerbrenner. Wie steht es bei den Algorithmen damit?

Ralf Lichtinghagen: In der Tat ist die Vergütung ein großes und bisher leider ungelöstes Problem. Wie wir beim GAAD Score gesehen haben, ist der medizinische Mehrwert der Algorithmen im Vergleich zu den Einzelparametern evident. Aber es gibt bis jetzt einfach noch keine Abrechnungsziffer für solche digitalen Leistungen, obwohl für Labore natürlich Kosten anfallen, wenn sie Algorithmen einsetzen wollen. Beim Beispiel der navify Algorithm Suite ist das eine jährliche Nutzungsgebühr. Darüber hinaus wird pro Nutzung des Algorithmus ein Zusatzbetrag fällig. Für Labore muss es deshalb eine Möglichkeit geben, digitale Services abzurechnen – zu klären ist das auf Ebene der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Aber auch die Industrie ist gefordert, diese Diskussion voranzutreiben. Langfristig müssen unsere Vergütungssysteme mit dem digitalen Fortschritt mithalten.


Was erwarten Sie im Bereich Algorithmen beziehungsweise digitale Marker für die Zukunft?

Ralf Lichtinghagen: Digitalisierung, Big Data und Co. – in diesen Begriffen liegt ein großes Versprechen: Dass wir aus der Fülle von Daten, die wir im Labor generieren, zukünftig noch wertvollere, handlungsleitende Informationen erhalten können als heute. Die wissenschaftliche Literatur ist voll von vielversprechenden Algorithmen. Hier ist auch die Industrie gefordert, gemeinsam mit Forschungseinrichtungen und Laboren, diese Algorithmen zu prüfen, zu validieren und in einem nahtlosen Workflow für das Routinelabor bereit zu stellen. Ich wünsche mir sehr, dass wir in diesem Bereich bald einen Schritt vorankommen und weitere digitale Marker für unsere Arbeit im Labor zur Verfügung haben werden.

Referenzen

  1. GAAD ist ein CE-IVD Algorithmus (CE 0123)

  2. Tzartzeva K, et al., Gastroenterology 2018; 154(6): 1706–1718

  3. https://journals.lww.com/hepcomm/fulltext/2023/11010/development_and_clinical_validation_of_a_novel.34.aspx

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