Immer häufiger werden innovative Ansätze aus den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI) im Kampf gegen die Corona-Pandemie eingesetzt. Sie können helfen, die Verbreitung von COVID-19 einzudämmen, Risikogruppen zu identifizieren, Erkrankungen schneller zu diagnostizieren und Wirkstoffe gegen das Coronavirus zu finden. Mit KI gegen Corona – aber umgekehrt scheint die Corona-Krise auch dem Einsatz von KI in der Gesundheitswirtschaft einen Schub zu verpassen.
Vor rund zwei Jahren verabschiedete das Bundeskabinett die Eckpunkte für eine KI-Strategie – mit Gesundheit als einem der wichtigsten Anwendungsgebiete.1 "KI – made in Germany" sollte zum weltweit anerkannten Gütesiegel werden.2 Viele hielten das Papier für einen Schnellschuss, einiges blieb zunächst vage.3 Inzwischen steigt die Akzeptanz von KI im Gesundheitswesen4 und die Corona-Pandemie – so der Eindruck – scheint diesen Trend noch zu befeuern. Im Juni dieses Jahres gaben der Münchner Kreis zusammen mit der Bertelsmann Stiftung die "Zukunftsstudie: Leben, Arbeit, Bildung 2035+" heraus. Im Rahmen der Untersuchung führten die Herausgeber eine Online-Befragung mit 211 Expertinnen und Experten zum Thema Technologieentwicklung, Digitalisierung und KI durch, von denen 85 Prozent davon ausgingen, dass Corona zu einem steigenden Einsatz von KI-Technologien im Gesundheitssektor führen wird.5
Die Einsatzmöglichkeiten von KI im Zusammenhang mit COVID-19 sind vielfältig, das Potenzial ist groß. Das offenbarte sich bereits ganz zu Anfang der Pandemie: Eine Woche bevor sich die Weltgesundheitsbehörde WHO erstmals mit dem Virus beschäftigte, warnte die kanadische Firma Blue Dot vor dem Ausbruch einer neuen Krankheit im chinesischen Wuhan: Mithilfe von Künstlicher Intelligenz konnte sie Aussagen zum weiteren Verbreitungsweg machen. Nach Auswertung der Daten gab Blue Dot bereits am 31. Dezember 2019 eine Reisewarnung an seine Kunden. Das KI-System durchsuchte dazu regionale Nachrichten in 65 Sprachen, unterschied mit Hilfe von Techniken des maschinellen Lernens und der automatisierten Spracherkennung (Natural Lange Processing; NLP) menschliche Sprache und konnte dadurch Hinweise auf ungewöhnliche Ereignisse wie SARS-CoV-2-Ausbrüche erkennen.6
Um SARS-CoV-2 in Schach zu halten, gilt es, Infektionsherde so schnell wie möglich zu erkennen. Hierbei kann die KI-gestützte Auswertung computertomografischer (CT-) Aufnahmen helfen. Schon Anfang März berichtete Alibaba, der größte IT-Konzern Chinas, dass es die Viruserkrankung in CT-Aufnahmen der Lunge mit einer Genauigkeit von 96 Prozent nachweisen kann – und das in nur etwa 20 Sekunden.7 Die Grundlage dafür bilden KI-Techniken – genauer gesagt: Techniken des so genannten "Deep Learnings". Die Methode wird im Laufe der Zeit immer besser. Je mehr Bilder der zugrundeliegende Algorithmus "zu sehen bekommt", umso genauer wird er. Schwächen zeigen solche KI-gestützten Methoden allerdings offenbar, wenn es darum geht, sie auf externe Institutionen zu übertragen: Dann sinkt nämlich die Erkennungsrate, wie eine Untersuchung aus dem Jahr 2018 zeigt.8
Eine Studie, die Anfang Juni veröffentlicht wurde und bei der 191 Patienten mit Verdacht auf COVID-19 standardisiert mit Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und Niedrigdosis-(ND-)Thorax-CT untersucht wurden, empfiehlt den Einsatz beider Tests. "Für den parallelen Einsatz von ND-CT und Abstrich/PCR spricht, dass die ND-CT falsch-negative Abstrichergebnisse korrigieren kann, ihre Ergebnisse weit schneller verfügbar sind und für die Behandlungsplanung hilfreiche zusätzliche diagnostische Informationen liefern", lautet die Schlussfolgerung der Arbeitsgruppe.9
In dem Ende März gestarteten Wettbewerb arbeiten Ärzt*innen, KI-Spezialist*innen und Entwickler*innen zusammen daran, CT-Bilder mit Hilfe von KI zu analysieren, um COVID-19 besser zu verstehen. Hinter dem Projekt stehen Vertreter der Münchner Universitäten und einige Technologiefirmen. Das Projekt wird außerdem vom European Institute of Innovation and Technology (EIT) der EU gefördert.
Auch im Wettlauf um Impfstoffe und Medikamente gegen COVID-19 könnte sich KI als "Pace-Maker" erweisen. Der chinesische Technologiekonzern Alibaba stellte öffentlichen Forschungseinrichtungen schon Ende Januar seine KI-basierte Cloud-Plattform zur Verfügung. Das High-Speed-System unterstütze bei der Virussequenzierung, der Erforschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe und dem Proteinscreening.10,11 Ein weiteres chinesisches IT-Unternehmen, Baidu, machte seinen Algorithmus zur Vorhersage der RNA-Sekundärstruktur kurze Zeit später zur Open Source.12 Damit sei es laut einer Firmenmeldung nun möglich, die Prädiktionszeit von 55 Minuten auf 27 Sekunden zu reduzieren.13
Auch Innophore, ein Spin-off der Universität Graz, setzt bei der Medikamentenentwicklung auf KI. Die Firma gehörte zu den weltweit ersten, die mithilfe von Künstlicher Intelligenz 3D-Strukturen in bereits zugelassenen therapeutisch wirksamen Proteinen untersuchten. Ziel ist es, Wirkstoffe zu identifizieren, die aufgrund ihrer Struktur und bestimmter weitere Eigenschaften als antivirale Medikamente gegen SARS-CoV-2 in Frage kommen. "Wir freuen uns, dass wir bereits eine Reihe an potenziellen Wirkstoffkandidaten identifizieren konnten", verriet Innophore-CEO Christian Gruber Ende Juni in einer Pressemeldung. Aktuell werden diese Substanzen an der Universität Graz verschiedenen In-vitro-Tests unterzogen, um ihre Eignung für spätere klinische Studien abzuklären.
Mithilfe von Deep Learning können KI-Systeme eine Corona-Infektion anhand von CT-Aufnahmen mit einer sehr hohen Genauigkeit nachweisen.
Die wohl bekannteste Anwendung Künstlicher Intelligenz in der Coronakrise ist das Pandemiemanagement. Weltweit kommen derzeit zahlreiche unterschiedliche Corona-Apps zum Einsatz, wobei nicht alle so strengen Datenschutzrichtlinien folgen wie die in Deutschland am 16. Juni eingeführte Corona-Warn-App. Diese arbeitet dezentral und gibt keine sensiblen Daten heraus. Andere Länder wie China beispielsweise erstellen mithilfe zentral gespeicherter Daten und Algorithmen Bewegungsprofile ihrer Nutzer anhand von GPS-Signalen.14
Die deutsche Corona-Warn-App gewährleistet ein hohes Maß an Datenschutz. Das schließt den Einsatz von KI beim Pandemie-Tracing aber nicht aus, wie Informatiker der Universität Lübeck sagen. Mit "Privacy-Preserving Federated Learning" – eine Art von maschinellem Lernen aus dezentral gespeicherten, datenschutzfreundlichen Daten – wollen sie Methoden entwickeln, die die Funktionen der Corona-Apps sinnvoll erweitern könnten.15
Die genannten Beispiele zeigen: Das Anwendungsgebiet von KI im Pandemiemanagement, der Diagnostik und Therapie von COViD-19 ist breit und spiegelt das enorme Potenzial der Künstlichen Intelligenz im gesamten Gesundheitswesen wider. Umgekehrt hat die Digitalisierung der Gesundheitsindustrie während der Pandemie ebenfalls einen riesigen Enwicklungsschub erhalten und damit haben sich auch die Anwendungsmöglichkeiten der KI vergrößert. Eine Win-win-Situation? Klar ist, dass der Einsatz smarter Maschinen die Gesundheitswirtschaft vor ganz neue Herausforderungen bezüglich Zuverlässigkeit, Transparenz und Datenschutz stellt. Das größte Problem sehen Experten nicht in der Frage, ob KI-Methoden per se einen Nutzen haben, sondern wie sie sich sinnvoll in die Patientenversorgung integrieren lassen.16 So wird es mit der verstärkten Nutzung von Künstlicher Intelligenz in Zukunft vermehrt nötig sein, sich ethischen Fragen zu stellen.
Um den verantwortungsvollen Nutzen lernender Systeme zu erarbeiten und juristische, ethische und gesellschaftliche Frage zu erörtern, hat das Bundesforschungsministerium BMBF die Plattform "Lernende Systeme – Die Plattform für Künstliche Intelligenz" initiiert.
In der Rubrik "KI versus Corona" finden sich aktuelle Anwendungen, Ideenwettbewerbe, Initiativen und Forschungsprojekte rund um die Anwendung von künstlicher Intelligenz im Kampf gegen das Coronavirus.
Literatur
https://www.bmbf.de/files/180718%20Eckpunkte_KI-Strategie%20final%20Layout.pdf
https://www.aerztezeitung.de/Politik/Deutsche-Strategie-zur-Kuenstlichen-Intelligenz-230264.html
https://netzpolitik.org/2018/ki-strategie-der-regierung-so-will-deutschland-international-aufholen
https://healthcare-in-europe.com/de/news/nutzung-akzeptanz-von-ki-im-gesundheitswesen-steigt.html
Zech et al. Plos Med. 2018. 15(11):e1002683.
https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1002683
Schulz-Hagen et al. Dtsch Arztebl Int 2020; 117:389-95; DOI: 10.3238/arztebl.2020.0389
https://www.dfki.de/fileadmin/user_upload/import/10809_corona2.pages.pdf
https://www.dfki.de/fileadmin/user_upload/import/10809_corona2.pages.pdf
Davenport T. und Kalakota R. Future Healthc J. 2019 Jun; 6(2):94–98. doi: 10.7861/futurehosp.6-2-94
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