Trends fallen nicht vom Himmel. Die Zukunft ist nicht plötzlich da, sondern das Ergebnis konkreter Entscheidungen konkreter Menschen. Trends gibt es nur, weil Entwicklungen von Menschen getrieben oder blockiert werden, welche die Autorität oder die Ressourcen haben, dass andere ihnen folgen. Trendforscher wissen, Zukunft kann man weder messen noch zählen. Sie beobachten das Verhalten der Entscheidungsträger, analysieren Einflussfaktoren, Treiber und Blockaden, Chancen und Risiken, um auf diese Weise ihre Prognosen zu erstellen. Bei der wissenschaftlichen Zukunftsforschung geht es nicht darum, allgemeingültige Megatrends auszurufen, sondern Strategien für die Mitgestaltung der Zukunft zu entwickeln. Fragen, die jeden von uns betreffen lauten beispielsweise: Wie werden wir künftig arbeiten und leben, handeln und produzieren? Wie werden datengenerierende Technologien die Zukunft der Medizin prägen und welche Rolle bei alledem wird der Patient spielen? Einige Prognosen dazu liefert der folgende Text.
Ein Beitrag von Michael Carl, 2b AHEAD Think Tank, Leipzig
Um uns herum nehmen Veränderungen rasant Fahrt auf. Das Gefühl, die Welt drehe sich immer schneller, trügt nicht. Das vertraute lineare und kontrollierte Entwicklungstempo gehört zunehmend der Vergangenheit an. Unsere Umwelt wandelt sich exponentiell – tatsächlich könnte man sagen: Unsere Welt wird sich nie wieder so langsam entwickeln wie heute.
Getrieben wird diese Entwicklung von der großen Menge verfügbarer Daten – auch in der Medizinbranche. Dabei ist die heutige Vorstellung von Datenbeschaffenheit und Datenqualität in der Regel zu eng. Technologieexperten bestätigen: Spätestens bis zum Jahr 2020 werden auch Gedanken und Empfindungen Teile von Daten sein. Schon heute können Elektroden Gehirnströme lesen, mittels derer querschnittsgelähmte Menschen ihren Rollstuhl lenken. In wenigen Jahren werden nicht mehr Elektroden direkt am Kopf der Patienten befestigt sein, sondern Sensoren aus einem Meter Entfernung unsere Gedanken lesen.
Jeder Gegenstand des alltäglichen Bedarfs wird potenziell an das Internet angeschlossen und vernetzt sein – der Stuhl, auf dem wir sitzen, unser Kühlschrank oder unser Auto. Beim sogenannten "Internet of Everything" sind folglich nicht nur Computer, Laptops, Tablets und Smartphones miteinander verbunden, sondern auch intelligente Maschinen, die zusätzliche Daten erzeugen. Für Kinder von morgen ist die Formulierung „Ich gehe ins Internet“ unverständlich, würde es doch bedeuten, dass sie zuvor offline waren.
Die Vernetzung großer Datenmengen führt zu hochgradig adaptiven Produkten, die sich den individuellen, wechselnden Bedürfnissen der Menschen anpassen können. Das gilt auch und gerade in der Medizin: Aufgezeichnete Daten von Smartphone Apps, Sensoren aus Smart Homes und Wearables eröffnen neuartige Möglichkeiten, Gesundheitsleistungen individuell jedem Patienten anzupassen.
Diese Form der personalisierten Medizin ist also eine datenzentrierte Medizin. Daten über einen Patienten sind bereits heute zahlreich, sie steigen weiter exponentiell an. Wo gestern vielleicht ein Laborwert und ein Röntgenbild Grundlage einer medizinischen Entscheidung waren, wird in Zukunft multiparametrisch ein Gesamtbild zur medizinischen Handlungsempfehlung erstellt. Das wird auch Strukturen und Abläufe im Rahmen des Patientenmanagements verändern. Patientendaten übernehmen die Führungsrolle in der gesamten Behandlungskette. Das datenbasierte Wissen um den Zustand eines Patienten und daraus abgeleitete potenzielle Diagnosen, Therapien oder Präventionsmaßnahmen treiben auch eine immer höhere Spezialisierung von Professionen voran.
Um den einzelnen Menschen werden dynamische Gesundheitsnetze entstehen, deren Knotenpunkte sowohl die traditionellen Akteure der Gesundheitsbranche als auch neu hinzutretende Anbieter bilden, wie Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie, aus dem Sport- und Fitnessbereich, der Medizintechnik oder des IT-Sektors. Das Tempo der Entscheidungsfindung für Präventionsmaßnahmen oder Therapien steigt, genau wie das von Neuentwicklungen für Produkte und Gesundheitsangebote. Darüber hinaus bietet diese Form der personalisierten Medizin die Chance, neue Orte für die Gesundheit zu finden und Gesundheitsthemen flexibel zu platzieren, etwa im eigenen Zuhause, im Auto, im Restaurant oder am Arbeitsplatz.
Wenn Patienten über immer mehr Informationen verfügen, bedeutet das nicht gleichzeitig mehr Wissen oder Verständnis. Daher werden Erklärung und Deutung von Daten sowie die Kommunikation, z. B. von Risiken, immer wichtiger. Patienten brauchen Experten, die ihnen beratend zur Seite stehen. Allerdings wird diese Rolle in Zukunft nicht mehr automatisch dem Hausarzt zufallen. Vielmehr konkurrieren unterschiedliche Player der Gesundheitsbranche um diese meist zeitlich begrenzte Funktion. Das können Ansprechpartner für bestimmte Krankheitsbilder sein – für den Krebspatienten der Onkologe, für die Frau mit Kinderwunsch der Gynäkologe – oder Ansprechpartner, die in einer bestimmten Lebensphase wichtig sind, für einen alten Menschen z. B. eine Pflegeperson. Es wird eine Konkurrenz um die Steuerungsfunktion entstehen, denn wer diese Rolle innehat, entscheidet maßgeblich über die weiteren Player im Netzwerk und deren Versorgungsaufgaben.
All diese Prognosen treten natürlich nur dann ein, wenn Menschen ihre persönlichen Daten für eine medizinische Analyse freigeben. Datenschutz der Zukunft muss daher heißen, dass der Patient die Hoheit über seine Daten besitzt und bestimmt, wie mit ihnen verfahren wird. Er muss sich darauf verlassen können, dass seine Daten jederzeit aktuell verfügbar und gleichzeitig vor dem Zugriff nicht autorisierter Dritter geschützt sind. In diesem Zusammenhang spielt die Blockchain-Technologie eine entscheidende Rolle. Die bekannteste und älteste Blockchain-Anwendung ist die digitale Währung Bitcoin. In der Blockchain werden Informationen nicht auf einem einzelnen Server gespeichert, sondern jeweils dezentral auf verschiedenen Rechnern in einem Netzwerk. Um Informationen zu verfälschen, reicht es nicht mehr aus, einen einzelnen Server zu hacken, sondern eben jeden einzelnen Computer in der Blockchain. Das macht die Technologie besonders sicher und damit auch geeignet für den Austausch sensibler Gesundheits- oder Krankheitsdaten.
Das datenbasierte Wissen um die Befindlichkeiten der Menschen wird auch dafür sorgen, dass die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit verschwimmt. Dass Menschen nicht entweder zu 100 % gesund oder krank sind, ist kein neuer Gedanke. Die breite Datengrundlage ermöglicht es aber, nicht nur vorhandene Krankheiten zu entdecken. Der gesunde Mensch weiß in Zukunft auch viel über Risiken potenzieller Erkrankungen. Das wirft wiederum die Frage auf, wo die Grenze zwischen gesund und krank verläuft. Die WHO definiert Gesundheit als einen Zustand körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens, der weit über das Fehlen von Krankheit oder Beschwerden hinausgeht – ein zukunftsweisendes Verständnis.
Heutige Patienten sind auf die Datensammlung,-auswertung und -interpretation ihres behandelnden Arztes angewiesen – in ihrer Wahrnehmung sind sie von ihm abhängig. Patienten der Zukunft verfügen selbst über die größte Menge an Daten zum eigenen Gesundheitsstatus und haben Zugang zu deren Auswertung und Interpretation. Während beim klassischen Patienten der Blick Richtung Krankheit, Symptom und Defizit geht, richtet sich der Blick des zukünftigen Kunden auf die Gesundheit. Patienten werden zu „Gesundheitskunden“, die sich zur Optimierung ihres Gesundheitszustandes einen Gesundheitsdienstleister auswählen. Dessen Attraktivität wird vom Mehrwert abhängen, den er liefern kann. Entscheidend für die Dienstleister wird sein, ihre potentiellen Kunden genau zu kennen. Sie werden analysieren, wie jeder einzelne ihrer Gesundheitskunden „tickt“, welche Bedürfnisse und Erwartungen er hat und wie man am besten kommuniziert.
Im Sinne einer „optimierten“ Gesundheit könnten in der Welt von morgen Technologien auch genutzt werden, um Körperfunktionen zu erweitern oder voll zu erhalten: Die Kontaktlinse blendet bei Bedarf notwendige Informationen ein. Neue Organe entstehen im 3D-Drucker aus den Stammzellen des Patienten. Vielleicht wird es auch völlig normal sein, Organersatz beim Arzt zu bestellen, lange bevor das Erstorgan seinen Dienst quittiert.
Computer werden zu persönlichen Assistenzsystemen.
Die persönliche Interaktion verliert in Zukunft ihre heutige zentrale Rolle. Menschen werden zunehmend erfahren, dass eine Maschine sie mitunter besser versteht und der Kommunikation mit Menschen deshalb überlegen sein kann, weil sie klaren Strukturen folgt und eine Vielzahl von Daten und Parametern berücksichtigt. Konsequent weitergedacht, könnten Computer zu persönlichen Assistenzsystemen werden, die im Auftrag ihrer Besitzer Anrufe durchführen, Informationen und Angebote einholen und das in einer Frequenz und Ausdauer, die Menschen nicht möglich wären. Darauf müssen sich Dienstleister in der Gesundheitsbranche einstellen.
Als Ergebnis wird sich die Art und Weise von Arbeit vollständig wandeln. Wo wir heute über Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine reden, betrachten wir in Zukunft Mensch-Maschine-Organismen. In lernenden Systemen werden sich Algorithmen als Werkzeug des Menschen emanzipieren, sie werden zu „Teammitgliedern“ und übernehmen sogar Führungsaufgaben.
All diese Veränderungen erfordern eine grundlegend neue Art des Denkens und damit auch einen Kulturwandel. Um den Möglichkeiten und dem Fortschreiten der Digitalisierung gerecht zu werden, müssen wir unsere Vorstellungen von Werten, Qualität und Umgang mit Fehlern radikal überdenken. Unsere bisherigen Denkweisen erlauben uns nicht, mit dem exponentiellen Veränderungstempo mitzuhalten. Ferner dürfen wir nicht einfach nur abwarten, sondern wir müssen handeln, auch wenn wir Kompetenzen überschreiten und gute Vorsätze umgehen.
In der Welt von morgen gilt eher der Slogan: Besser hinterher um Entschuldigung, als vorher um Genehmigung bitten.
Weiterführende Informationen:
Michael Carl et al: Trendstudie Personalisierte Medizin der Zukunft (2015)
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