• Wie die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, ist die Digitalisierung im Gesundheitswesen ein entscheidender Faktor, um die Versorgung der Patienten zu verbessern.

  • Führungskräfte im Gesundheitswesen müssen sicherstellen, dass digitale Tools mit Blick auf die Endbenutzer erstellt und implementiert werden.

  • Für eine erfolgreiche Digitalisierung des Gesundheitswesensmüssen physische Prozesse für Gesundheitsdienstleister „smartifiziert“ und Partnerschaften mit Entscheidungsträgern aufgebaut werden.

Digitale Gesundheitstools kommen immer häufiger zum Einsatz. Bereits vor der Pandemie war ein neuer Trend zu beobachten, doch besonders während der COVID-19-Pandemie führte der Bedarf an alternativen Wegen zur Gesundheitsversorgung dazu, dass vermehrt digitale Technologien eingeführt und genutzt wurden. Von der Telemedizin über Online- Apotheken bis hin zur Versorgung aus der Ferne – das das digitale Ökosystem des Gesundheitswesens wächst immer weiter. Der globale digitale Gesundheitsmarkt wurde 2019 auf 175 Milliarden US-Dollar geschätzt.1 Experten gehen davon aus, dass der Markt bis 2025 auf fast 660 Milliarden US-Dollar ansteigen wird.1

Doch es ist gar nicht so einfach, Tools zu entwickeln, die die Gesundheitsdienstleister entlasten, anstatt sie zusätzlich zu belasten. Das ist ein Problem, mit dem sich Pflegekräfte seit der Einführung von elektronischen Patientenakten (ePA) auseinander setzen müssen, wie Stoyan Halkaliev, NursIT Institute GmbH, in unserem neuesten Interview unserer „Startup Creasphere“-Reihe betont.

Erfahren Sie mehr über die Herausforderungen, die Stoyan und sein Team identifiziert haben, und wo seiner Meinung nach die Chancen für das Gesundheitswesen liegen, insbesondere für Pflegekräfte. Er erklärt, welche Rolle Regierungen spielen können und wie wichtig neue Partnerschaften sind, wenn es darum geht, eine sinnvolle Digitalisierung im Gesundheitssektor zu fördern.

Frage: Was haben Sie im Hinblick auf die Art und Weise beobachtet, wie der Gesundheitssektor die Digitalisierung umsetzt und fördert?

Stoyan Halkaliev: Der Übergang zur Digitalisierung ist eine umfassende Change-Management-Aufgabe. Damit die Digitalisierung erfolgreich ist, müssen alle an Bord sein und die digitalen Gesundheitstools richtig nutzen. Aber das war nicht immer einfach. Wenn es darum geht, Pflegekräfte für die Digitalisierung zu gewinnen, habe ich festgestellt, dass viele der eingeführten digitalen Tools nicht mit den Pflegekräften und ihren Bedürfnissen im Hinterkopf konzipiert wurden. Nehmen wir die elektronische Patientenakte als Beispiel. Sie wurde für Krankenhaus-Administratoren oder Ärzte entwickelt. Eine Studie, die vor zehn Jahren veröffentlicht wurde, zeigte, dass die Mehrheit der befragten Pflegekräfte der Meinung war, dass digitale Tools ihre Arbeit behinderten.2

Die Eingabe von Daten in ein System kann zeitaufwendig sein. Heute müssen sich die Mitarbeitenden anmelden, nach Patienten suchen, die richtigen Formulare finden, sicherstellen, dass alle Felder ausgefüllt sind, und dann dafür sorgen, dass alle Formulare am richtigen Ort gespeichert sind. Wir stellen fest, dass Pflegekräfte am Ende vielleicht drei- bis viermal länger brauchen, um Daten digital einzugeben, als wenn sie wie gewohnt Papierformulare verwendeten.

Es ist absolut entscheidend, dass digitale Gesundheitstools unter Berücksichtigung der Endanwender entwickelt werden – insbesondere, weil Pflegekräfte aufgrund von Personalmangel noch weniger Zeit haben, neue Tools in ihre tägliche Praxis einzubinden.

Frage: Warum, glauben Sie, hinkt der Gesundheitssektor anderen Branchen hinterher, wenn es um die Digitalisierung geht?

Stoyan Halkaliev: Ich denke, ein Hauptproblem im Gesundheitssektor ist, dass nie wirklich KPIs verwendet wurden, um Ergebnisse zu messen und zu verfolgen, wie es in anderen Branchen häufig der Fall ist. Erwähnenswert ist auch, dass das Gesundheitswesen nicht unbedingt das ist, was wir normalerweise unter einem „Geschäft“ verstehen.

Interessant ist hier der große Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. In den Vereinigten Staaten agieren Krankenhäuser mehr wie Unternehmen als in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder England. Zudem sind in den Vereinigten Staaten die Fortschritte bei der Digitalisierung größer als in Europa, wo die Systemstruktur nicht unbedingt einen Anreiz bietet, diese Art von Wandel voranzutreiben.

Daher liegen wir bei der Digitalisierung wahrscheinlich mindestens zehn Jahre, vielleicht sogar 15 Jahre hinter anderen Branchen zurück. Wenn Sie sich die Softwaresysteme anschauen, die gerade in den Krankenhäusern verwendet werden, werden Sie feststellen, dass die meisten in den 90ern und frühen 2000ern entwickelt wurden, als eine Alternative zum Papier her musste.

Deshalb müssen externe Kräfte wie Regierungen oder andere Institutionen diese Anreize schaffen.

Frage: Werden die Regierungen jetzt aktiv?

Stoyan Halkaliev: Während der Pandemie haben die Regierungen begonnen, den Handlungsbedarf zu erkennen. Sie erkannten, dass die Digitalisierung für die Gesellschaft als Ganzes von großem Nutzen war und dass etwas getan werden musste. Deutschland war das erste Land, das mit dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) reagiert hat. Im Rahmen dessen wurden rund 4 Milliarden Euro eingeführt und den Krankenhäusern wurde mitgeteilt, dass sie spezielle Software für die Pflege- und Behandlungsdokumentation erwerben müssten, um ihre Prozesse zu optimieren und ihre Interoperabilität zu verbessern.3

Die Regierung stellte also zusätzliche Mittel zur Verfügung, um Anreize für Krankenhäuser zu schaffen. Sollten die Änderungen bis 2025 nicht umgesetzt werden, würde die Regierung das Budget der Krankenhäuser um 2 % reduzieren.4 Auch bei der Förderung der Verordnung von Apps, die von Versicherungen übernommen werden, hat Deutschland eine Vorreiterrolle übernommen. Die französische Regierung ergreift ebenfalls Maßnahmen im Rahmen ihres Programms „France 2030“.5

Frage: Wie wichtig sind Partnerschaften, wenn es darum geht, das richtige Umfeld für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu schaffen?

Stoyan Halkaliev: Meiner Meinung nach erkennen die Menschen mittlerweile, dass sich der Markt weg von einem einheitlichen Produktmarkt hin zu einem Systemmarkt entwickelt. Die Leute wollen nicht nur ein einzelnes Produkt kaufen. Sie denken in Systemen. Sie möchten sicher sein können, dass alles in ihr System und ihre Gesamtstrategie passt. Aus diesem Grund denken wir auch an IT-Systeme. Wir brauchen intelligente Arbeitsinitiativen und Interoperabilität über das gesamte Backend, damit jeder, der unsere Daten benötigt, sie auch nutzen kann. Dieser Ansatz bedeutet auch, dass wir Lösungen entwickeln, die sich leichter in andere Systeme integrieren lassen. Wichtig ist außerdem, dass Hardwaresysteme mit Softwaresystemen verbunden werden. Wir stehen gerade am Anfang dieser Entwicklung, aber es ist spannend, hier mit Roche zusammenzuarbeiten.

Frage: Wie können digitale Gesundheitstools Pflegekräfte entlasten?

Stoyan Halkaliev: Personalmangel ist eines der größten Probleme, mit denen die meisten Krankenhäuser derzeit konfrontiert sind. Viele Pflegekräfte verlassen ihren Job und es gibt nicht genügend neue Pflegekräfte. Wir müssen verschiedene Wege finden, um die Arbeitsbelastung zu verringern. Sollte dies nicht gelingen, so müssen wir zumindest sicherstellen, dass sich die Pflegekräfte auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren und dass sie nicht zu viel Zeit auf Verwaltungsaufgaben verwenden müssen, die letztendlich häufig bei ihnen landen. Es gibt Studien, die zeigen, dass Pflegekräfte mehr als die Hälfte ihrer Zeit für Dokumentations- und Verwaltungsaufgaben aufwenden.6

Wir können dazu beitragen, diese Dokumentationslast zu verringern, indem wir physikalische Prozesse „smartifizieren“. Ein Beispiel ist die Messung von Glukose im Blut bei Diabetespatienten. Die reguläre Vorgehensweise ist, Blut zu entnehmen, die Ergebnisse auf einem Gerät abzulesen und sie dann in die ePA einzugeben. Anschließend muss ein Arzt ggf. die Ergebnisse analysieren und dann der Pflegekraft mitteilen, welche Insulindosis für den Patienten erforderlich ist. Wir könnten diese Schritte durch digitale Geräte und ein System, das nach der Messung alles sofort dokumentiert und digitalisiert, deutlich reduzieren. Ärzte könnten schnellere Entscheidungen treffen und Pflegekräfte schneller die entsprechenden Maßnahmen ergreifen.

Dieser Ansatz könnte sogar mit Vitalsystemen durchgeführt werden, bei denen digitale Geräte automatisch Messungen durchführen und Daten ohne Eingreifen des Pflegepersonals sammeln können. Wir können Point-of-Care-Geräte mit Softwaresystemen und digitalen Workflows kombinieren, die darauf ausgelegt sind, Pflegekräfte zu entlasten.

Frage: Wie können digitale Tools das Gesundheitssystem insgesamt unterstützen?

Stoyan Halkaliev: Eine Möglichkeit besteht darin, sicherzustellen, dass verschiedene Teile des Systems die Erkenntnisse erhalten, die sie benötigen, um so effektiv wie möglich funktionieren zu können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie das Abrechnungssystem für Krankenhäuser funktioniert. Derzeit erhalten Krankenhäuser Geld abhängig von der medizinischen Diagnose eines Patienten. Dabei wird nicht berücksichtigt, wie viel Versorgung verschiedene Patienten benötigen, selbst wenn sie unter derselben Erkrankung leiden. Ein älterer und ein jüngerer Patient können beide ins Krankenhaus kommen und wegen einer Ohr-Infektion behandelt werden. Der ältere Patient kann jedoch aufgrund seiner Altersschwäche deutlich mehr Pflege benötigen. Dies spiegelt sich in den derzeitigen Systemen nicht wider.

Durch die Erfassung zentraler Datenpunkte und eine transparentere Gestaltung des Pflegeprozesses mit digitalen Gesundheitstools könnten Krankenhäuser die Kosten basierend auf der geleisteten Arbeit und nicht den behandelten Erkrankungen erstattet bekommen.

Frage: Wie schaffen wir die richtigen Rahmenbedingungen und Bausteine, um eine erfolgreiche Digitalisierung unserer Gesundheitssysteme sicherzustellen? Welche Art von Unterstützung würden Sie sich von Entscheidungsträgern und Regierungen wünschen?

Stoyan Halkaliev: Aufgrund der Vernetzung im Gesundheitswesen, wo Patienten im Grunde genommen überall auf der Welt medizinische Versorgung erhalten können, ist es entscheidend, dass Entscheidungsträger und Regierungsstellen die Agenda für eine bessere Digitalisierung der Prozesse vorantreiben, damit Daten einfach, sicher und effizient weitergegeben werden können.

  1. Statista. (2023). Article available from https://www.statista.com/statistics/1092869/global-digital-health-market-size-forecast/ [Accessed January 2024]

  2. Kuramoto, R. (2014) Journal of Healthcare Management. 59(2):83-84. Paper available from https://journals.lww.com/jhmonline/toc/2014/03000 [Accessed January 2024]

  3. Bundesgesundheitsministerium. (2020). Article available from https://www.bundesgesundheitsministerium.de/en/digital-healthcare-act [Accessed January 2024]

  4. Bundesdruckeri. (2022). Article available from https://www.bundesdruckerei.de/en/innovation-hub/khzg-incentives-secure-data-hospitals [Accessed January 2024]

  5. ANR (2024). Article available from https://anr.fr/en/france-2030/france-2030/#:~:text=Created%20in%202010%2C%20the%20Investments,priority%20sectors%20to%20drive%20growth. [Accessed January 2024]

  6. Moy A. (2021). Journal of the American Medical Informatics Association, 28, 998–1008. Paper available from https://academic.oup.com/jamia/article/28/5/998/6090156 [Accessed January 2024]

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