Die mangelnde Risikostratifizierung der Algorithmen zur Abklärung auffälliger Befunde im Zervixkarzinom-Screening kann zur verfrühten Indiktion einer Abklärungskolposkopie mit der entsprechenden Verängstigung der Patientin aber auch zur Übertherapie der betroffenen Frauen führen. Im Interview spricht Dr. med. Gerd Böhmer über die Verteilung der Indikationen im Rahmen des Zervixkarzinom-Screenings sowie über den Nutzen der p16 / Ki-67-Doppelfärbung zur Reduktion von Kolposkopien.
Dr. med. Gerd Böhmer ist Facharzt für Gynäkologie, Geburtshilfe, Kolposkopie und Zytologie. Seit 2013 leitet er das Institut für Zytologie und Dysplasie (IZD Böhmer und Partner) in Hannover.
Dr. Böhmer, was hat sich beim Zervixkarzinom-Screening für Frauen verändert?
Seit dem Jahr 2020 gibt es eine neue Krebsvorsorgerichtlinie, die anders als in den Jahren zuvor für Frauen ab 35 Jahren nicht mehr ein jährliches Zytologie-Screening vorsieht, sondern eine Co-Testung mit HPV-Test und Zytologie alle drei Jahre. Bei jüngeren Frauen ab 20 bis 34 Jahren ist weiterhin das jährliche Zytologie-Screening vorgesehen.
Wann sollte eine Kolposkopie nach der aktuellen Richtlinie für organisierte Krebsfrüherkennungsprogramme (oKFE) durchgeführt werden?
Die Indikation zur Kolposkopie ist nach der neuen Richtlinie relativ kompliziert und detailliert definiert. Der gemeinsame Bundeszuschuss hat zusammen mit den Fachgesellschaften entschieden, dass ab einem Risiko für das Vorliegen einer CIN 3+ von ≥10% eine Abklärungskolposkopie erfolgen soll. So besteht eine gut definierter Abklärungsalgorithmus ausgehend von dem Ergebnis der Zytologie bei Frauen unter 35 Jahren bzw. vom Ergebnis der Zytologie in Kombination mit dem HPV-Ergebnis (Abb. 1).
Wie verteilt sich das Risiko für CIN3+ nach HPV?
Die Verteilung der HPV-Subtypen auf die höhergradigen Klassen, insbesondere CIN3, ist auch in unserer Datenanalyse sehr HPV-16-lastig. Das bedeutet, dass über 60 Prozent der Frauen mit einer schweren und somit therapiepflichtigen Krebsvorstufe einen HPV-Typ 16 aufweisen. Die anderen „high-risk“ HPV-Typen verteilen sich auf die übrigen etwa 40 Prozent der Frauen.
Wie sieht die Verteilung der Befunde nach der Datenanalyse des IZD Hannover bei Patientinnen mit Vorstellungsgrund nach dem Algorithmus der oKFE aus?
Wir haben in den Jahren 2020–2022 die Daten von ca. 5.400 Frauen, die entsprechend dem Abklärungsalgorithmus in unserer Dysplasieeinheit zur Durchführung einer Abklärungskolposkopie vorstellig wurden, erfasst. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir Daten von 2.700 Frauen (Daten von 01'2020 – 07'2021) ausgewertet. Die Verteilung der Indikationen war hier relativ ausgeglichen: von PAP II-p und HPV bei Frauen über 35 Jahren, über PAP IIID-1 bis hin zu höhergradigen Atypien. Auf der anderen Seite gab es einen großen Teil jüngerer Frauen, die – ohne einen HPV-Test bekommen zu haben – nur aufgrund eines auffälligen Abstriches bei uns eine Kolposkopie erhalten haben. Insgesamt gibt es in unserer Datenanalyse sechs verschiedene Gruppen, die wir auch differenziert analysiert haben (Abb. 2).
Welche Probleme zeigen sich bei dem Algorithmus?
Das Problem in dem Algorithmus ist, dass die Indikation zu einer Differenzialkolposkopie nur sehr grob risikostratifiziert ist. Das bedeutet, dass auch Frauen, die einen unauffälligen Abstrich und einen persistierenden HPV-Test nach einem Jahr haben, genauso eine Differenzialkolposkopie bekommen wie die Frauen, die eine höhergradige zytologische Auffälligkeit und somit auch ein deutlich höheres Risiko haben, an einer Krebsvorstufe erkrankt zu sein. Unterschiedliche Gruppen haben unterschiedliche Risiken – diese Risikostratifizierung wird nicht berücksichtigt.
Gäbe es eine Lösung, die Anzahl von Kolposkopien zu minimieren und Patientinnen früher eine sichere Diagnose zu geben?
In unserem Institut ist es tatsächlich so, dass bei Frauen mit niedriggradigen Abstrichergebnissen, von denen wir ja wissen, dass sie ein relativ niedriges Risiko haben, an der schweren Dysplasie CIN3 erkrankt zu sein, auch nur ein geringer Teil tatsächlich daran erkrankt ist (Abb. 3).
Im Rahmen der Differenzialkolposkopie haben wir bei diesen Frauen neben dem HPV-Test, dem Abstrich und der Biopsie routinemäßig einen Biomarker zur Diagnosesicherung mit untersucht. Der Biomarker beinhaltet eine Doppelfärbung von p16 und Ki-67 am Abstrich, um im Vorfeld zu prüfen, ob wir mit dieser zusätzlichen Maßnahme Frauen, die eher eine Erkrankung haben, von denen unterscheiden können, die sehr wahrscheinlich keine haben (Abb. 4).
Wie würden die Daten eine Biomarkeranalyse statt einer Abklärungsanalyse bei geringgradigen zytologischen Auffälligkeiten unterstützen?
Das zeigt unsere Analyse sehr eindrucksvoll: Wenn wir neben dem Algorithmus die Biomarkeranalyse mit in die Indikation einfließen lassen würden, könnten wir in der Gruppe mit positivem Biomarker mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit die gesuchten Krebsvorstufen finden. Ebenfalls mit einer sehr hohen Sicherheit könnten wir den Frauen mit negativem Biomarker diese zusätzliche, relativ komplizierte Untersuchung ersparen, ohne dass wir dadurch Erkrankungen übersehen.
Was sind also zusammengefasst die Erkenntnisse Ihrer Datenanalysestudien?
Es lassen sich zwei zentrale Erkenntnisse aus diesen Daten ziehen: Die erste und wichtigste ist, dass die Forderung nach einem zehnprozentigen Hintergrund-Risiko für das Vorhandensein einer CIN 3 bei dem Algorithmus bereits erfüllt wird – über alle Kolposkopien finden wir etwa 10,5 Prozent CIN 3. Aber wenn wir die Patientinnen im Vorfeld etwas differenzierter auswählen, können wir durch den Einsatz von Biomarkern bei Frauen mit negativen zytologischen Ergebnissen und auffälligem HPV sowie bei Frauen mit niedriggradigen zytologischen Auffälligkeiten und HPV die Indikation für eine Kolposkopie etwa halbieren.
Der neue Algorithmus sieht die Doppelfärbung nicht standardmäßig vor. Sie ist aber offensichtlich für viele Frauen sehr eindeutig indiziert. Wie wird der Biomarker üblicherweise in der täglichen Routine abgerechnet?
Die Biomarkeranalyse ist eine immunzytochemische Methode, die als Differenzialdiagnostik von einem Pathologen abgerechnet wird. Seit dem 01.01.2023 dürfen Gynäkologen, die die Abrechnungsgenehmigung für die gynäkologische Exfoliativzytologie (01762, 01766, 01826, 19318) haben, die immunzytochemische Färbung durchführen. In der Vergütung jedoch ist diese zusätzliche relativ teure Analyse weder bei der Abklärungszytologie noch bei der kurativ entnommenen Zytologie zusätzlich bewertet, wenngleich in der Leistungslegende die Immunfärbung fakultativer Leistungsinhalt ist.
Die Änderung in der Vergütung der Zytologie macht die flächendeckende Einführung der immunzytochemischen Färbung zusätzlich schwierig. Das Hauptproblem bei der Implementierung zusätzlicher Imunzytochemischer Färbungen jedoch ist der Abklärungsalgorithmus. Dieser berücksichtigt weder den HPV Typ 16, auch wenn diese Analyse von den Laboren eingefordert wird, noch eine mögliche immunzytochemische Färbung als Zwischenschritt bei niedriggradigen zytologischen Ergebnissen vor einer Abklärungskolposkopie.
Die Verteilung der untersuchten HPV-positiven Frauen auf die verschiedenen PAP-Gruppen ist relativ ausgeglichen.
Der HPV-Typ 16 ist bei Frauen mit einer CIN 3 oder höher der häufigste Hochrisiko-Typ. Er macht über 60 Prozent aus. Die anderen Typen verteilen sich auf die verbleibenden knapp 40 Prozent. Nur etwa 3 Prozent sind HPV-negativ.
Durch die Doppelfärbung von p16 und Ki-67 kann in mehr als der Hälfte der Frauen mit einem positiven HPV-Test und PAP I bis PAP III-D1 die Kolposkopie erspart werden.
Die Doppelfärbung sollte unbedingt an einem Dünnschicht-Präparat durchgeführt werden, um die besten Resultate zu erzielen.
Dr. Böhmers Ergebnisse vom IZD belegen, dass durch eine zusätzliche Risikostratifizierung des Algorithmus nach oKFE bei niedriggradigen zytologischen Auffälligkeiten mittels der immunzytochemischen Analye mit p16 / Ki-67 die Indikation zu einer Abklärungskolposkopien mehr als halbiert werden könnte.
Quellen
Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Krebsfrüherkennungs-Richtlinie und eine Änderung der Richtlinie für organisierte Krebsfrüherkennungsprogramme: Programm zur Früherkennung von Zervixkarzinom, §7 und §8, November 2022, Berlin
Dr. med. Gerd Böhmer, Klinische Falldemonstration von ersten Co-Testing-Fällen (Zytologie / Kolposkopie / HPV / Biomarker), AZÄD, September 2022, Köln
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