Gentherapien, molekulares Tumorprofiling oder Präzisionsmedizin? Ohne Forschung undenkbar. Man könnte meinen, solche bahnbrechenden Ideen, Entdeckungen und Entwicklungen seien Selbstläufer - sind sie aber nicht! Denn von bench to bedside, also vom Labor bis zu den Patient:innen, ist es manchmal ein weiter und überraschend steiniger Weg. Neben passionierten Wissenschaftler:innen braucht es also jemanden, der die Steine wegräumt und dafür sorgt, dass innovative Therapien und Wirkstoffe nicht nur erfolgreich erforscht werden, sondern auch im Praxisalltag ankommen. Wie schnell ein neues Arzneimittel in klinischen Studien erforscht werden kann, ob es dann auch in der Versorgung ankommt und wie medizinische Innovationen gewürdigt werden, hängt von den gesetzlichen Rahmenbedingungen ab. Sie entscheiden darüber, ob Deutschland ein Standort für Spitzenforschung und -versorgung bleibt oder - wie in den letzten Jahren - langsam zurückfällt.
Q: Thomas, du bist von Hause aus Jurist. Damit bist du nicht im Labor, sondern im politischen Berlin zuhause - was hat das mit medizinischer Forschung zu tun?
A: Das mag den einen oder anderen überraschen, aber tatsächlich eine ganze Menge. Wer in den letzten Jahren aufmerksam die Nachrichten verfolgt, hat vermutlich Folgendes beobachtet: Wenn es um die Digitalisierung, den Ausbau von erneuerbaren Energie, die Nutzung von KI, den Bau von Batterie-, E-Auto- oder Chip-Fabriken oder anderen Zukunftstechnologien geht, kommt es auf die richtigen Rahmenbedingungen an. Wie schnell kann ich etwas Neues umsetzen? Wie bürokratisch ist das Ganze? Welche Hürden gibt es? Innovative Medikamente und Diagnostika sind genau das: Zukunftstechnologien. Ob wir in Deutschland diese Technologien entwickeln, produzieren und ob sie auch bei den Patient:innen ankommen, hängt von den Rahmenbedingungen ab. Da geht es auch um die richtigen gesetzlichen Weichenstellungen.
Q: Man muss also etwas um die Ecke denken - kannst du es für uns etwas konkreter machen?
A: Denken wir mal an die klinische Forschung: Jedes Arzneimittel durchläuft aufwendige klinische Studien, um die Sicherheit und Wirksamkeit einer neuen Substanz zu überprüfen. Da gibt es zurecht strenge rechtliche und ethische Vorschriften. Bevor es also losgeht, muss die zuständige Ethikkommission die Studie erstmal genehmigen. Das Problem: Wir haben davon in Deutschland nicht nur eine, sondern rund 50, teils mit unterschiedlicher Bewertungspraxis. Für uns als forschendes Unternehmen macht es das schwer, denn wir wissen oft nicht, bei welcher Kommission wir am Ende landen. Worauf müssen wir uns vorbereiten? Was wird gefordert? Das ist oft unklar und kann den Start einer Studie verzögern. Auch der Strahlenschutz ist so ein Beispiel…
Q: … das klingt eher nach Atomkraftwerken als nach klinischen Studien.
A: Das könnte man meinen, aber jeder, der schon mal ein Röntgenbild oder eine Computertomographie (CT) gemacht hat, weiß, dass dort ebenfalls Strahlung auf den Körper wirkt. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) stellt sicher, dass wir im Alltag nicht zu viel davon abbekommen. Für die meisten Menschen ist Strahlung während einer radiologischen Untersuchung glücklicherweise das weitaus realistischere Szenario als ein Strahlungsleck im Kernkraftwerk. Müssen während einer klinischen Studie also z.B. CT-Aufnahmen gemacht werden, muss unsere Studie nicht nur durch die Ethikkommission, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte oder das Paul-Ehrlich-Institut genehmigt werden, sondern eben auch durch das BfS. Wir fahren gewissermaßen nochmal einen Umweg, der viel Zeit kostet. In Deutschland haben wir u.a. deshalb in der Vergangenheit oft länger gebraucht, um klinische Studien in Gang zu setzen als andere Länder, etwa Großbritannien, Spanien oder die USA. In der Konsequenz werden deshalb heute in Deutschland im internationalen Vergleich weniger Studien durchgeführt - für den Innovationsstandort Deutschland kein gutes Zeichen!
Q: Was müsste aus deiner Sicht geschehen, damit wir nicht weiter den Anschluss verlieren?
A: Es ist tatsächlich schon einiges geschehen. Im vergangenen Jahr haben wir uns als Industrie mit der Bundesregierung zusammengesetzt und genau diese Probleme diskutiert. Das Ergebnis ist die Nationale Pharmastrategie, die u.a. diese Missstände beseitigen soll. Ein erster Meilenstein - jetzt wird es politisch - ist das Medizinforschungsgesetz, das genau bei diesen Problemen ansetzt: Keine Umwege beim Strahlenschutz, unkompliziertere Einreichung und einheitlichere Bewertung bei den Ethikkommissionen und vieles mehr. Das Medizinforschungsgesetz entbürokratisiert also die klinische Forschung. Das ist ganz wichtig, aber das Gesetz beseitigt zum Teil auch innovationsfeindliche Regularien an anderer Stelle - dazu vielleicht später mehr!
Q: Stichwort Innovationen: Wo gibt es nach wie vor Hürden für innovative Forschung und neuartige Therapien?
A: Eine große Baustelle ist seit langem die sog. frühe Nutzenbewertung. Zum Verständnis: Neue Arzneimittel werden dort bewertet. Die Frage ist immer: Ist eine neue Therapie besser als das, was wir schon haben? Ist sie wirksamer? Ist sie verträglicher oder patient:innenfreundlicher? Hat sie also einen Zusatznutzen? Ist das der Fall, können wir als Industrie gemeinsam mit den Kassen einen Erstattungsbetrag verhandeln, der über dem der Vergleichstherapie liegt. Ist das nicht der Fall, gibt es auch keinen besseren Preis. Grundsätzlich ein faires System: Innovationen werden belohnt, Stillstand nicht.
Q: Die frühe Nutzenbewertung soll also innovative Therapien fördern - das klingt erstmal gut…
A: … funktioniert aber oft nicht mehr! Die gesetzliche Grundlage dafür stammt aus dem Jahr 2011, die Vorarbeit wurde noch früher geleistet. Wir bewerten also gerade die Therapien von morgen mit Maßstäben von gestern. Ein Beispiel: Wir entwickeln heute Arzneimittel gegen Erkrankungen, die in Deutschland teilweise nur eine Hand voll Patient:innen betreffen. Für eine klassische klinische Studie, die ein neues Medikament gegen ein altes testet, benötigen wir hunderte Patient:innen. Die gibt es dort aber schlicht nicht, es würde teils Jahrzehnte dauern, genug Patient:innen zu rekrutieren. Wir setzen deshalb in diesen Fällen einarmige Studien auf. Es gibt also keinen Vergleichsarm, die Patient:innen erhalten nur das neue Medikament und nicht etwa ein Placebo. Die Ergebnisse vergleichen wir dann mit Daten, die wir zum Beispiel aus Registern und Datenbank bekommen, in denen die Behandlungsergebnisse von Betroffenen aus dem Praxisalltag seit Jahren gesammelt werden. Das Problem: Diese Evidenz wird in der frühen Nutzenbewertung in der Regel nicht akzeptiert. Dann heißt es: Kein Zusatznutzen aus formalen Gründen. Wir gehen dann trotz aufwändiger Forschung und überzeugender Daten mit mehr oder weniger leeren Händen nach Hause.
Q: Ganz neue Ansätze wie Gentherapien oder neuartige Wirkstoffe bei Krebs bildet das System dann auch nicht ab, richtig?
A: Genau. Wir behandeln damit oft Betroffene, für die es lange keine Möglichkeiten gab, ihre Erkrankung dauerhaft zu stabilisieren oder sogar zu heilen. Und hier wird es teilweise paradox: In der Vergangenheit haben wir in klinischen Studien oft gemessen, ob Betroffene mit einem neuen Medikament länger leben als mit einem alten. Das ist wissenschaftlich betrachtet ein harter Endpunkt - null oder eins. Da gibt es kaum Interpretationsspielraum oder Unsicherheiten, am Ende einer solchen Studie ließ sich verlässlich die Wirksamkeit eines neuen Medikaments in gewonnener Lebenszeit messen. Das Problem: Wenn ich eine innovative Therapie habe, die für ein sehr langes Überleben sorgt, habe ich zum Zeitpunkt der frühen Nutzenbewertung diese Daten nicht, denn für die Auswertung brauche ich eine bestimmte Anzahl an Ereignissen. Das sind, ganz hart gesagt, Todesfälle. Ich kann dann zunächst sagen, den Patient:innen geht es besser oder schlechter, sie haben einen Progress oder sie haben keinen. Viele dieser “weichen” Endpunkte sind zwar in der wissenschaftlichen Community anerkannt, werden aber in der Nutzenbewertung teils nicht berücksichtigt.
Q: Was bedeutet das für die Patient:innenversorgung, aber auch für die forschenden Unternehmen?
A: Für die Patient:innen kann das tiefgreifende Konsequenzen haben, denn da geht es um mehr Lebenszeit oder eine bessere Lebensqualität, die mit neuen Therapien einhergehen. Einige Arzneimittel sind in den letzten Jahren hierzulande gar nicht mehr auf den Markt gekommen - das ist beunruhigend und trägt nicht zu einer besseren Versorgung bei. Für forschende Unternehmen wie Roche heißt das gleichzeitig, dass Innovationen in vielen Fällen nicht mehr ausreichend gewürdigt werden. Wir haben z.B. kürzlich ein hochmodernes Forschungszentrum für Gentherapien hier in Deutschland eröffnet - dort erforschen wir Therapien, die genau auf die o.g. Probleme treffen könnten. Das ist, sagen wir, ungünstig, denn unser Geschäftsmodell beruht allein auf Innovationen. Daran hängen Investitionen in Forschung, Standorte und Mitarbeitende - da würden wir uns natürlich faire Rahmenbedingungen wünschen.
Q: Wie ließe sich das Problem lösen? Es werden in den nächsten Jahren ja tendenziell immer mehr neuartige Therapien auf den Markt kommen.
A: Genau, das Problem wird sich eher verschärfen. Unser System muss lernen, mit Evidenzunsicherheiten umzugehen. Wenn es unangemessen oder nahezu unmöglich ist, Evidenz der höchsten Stufe vorzulegen, müssen wir mit der bestmöglichen verfügbaren Evidenz arbeiten, z. B. aus einarmigen Studien, Registern, Datenbanken und Co. Es ist manchmal schwer verständlich, dass die Zulassungsbehörden auf Basis solcher Ergebnisse eine Zulassung erteilen, unsere lokalen Institutionen diese Daten aber nicht einmal zur Nutzenbewertung heranziehen. Das sollte sich aus meiner Sicht ändern. Leider stehen wir da noch am Anfang, denn statt das System fit für die Zukunft zu machen, gab es in den letzten Jahren eher Rückschritte wie die sogenannten “Leitplanken”. Bescheinigt man uns heute einen geringen oder nicht-quantifizierbaren Zusatznutzen, wird der Erstattungsbetrag des neuen Arzneimittels auf den der patentgeschützten Vergleichstherapie gedeckelt. Das heißt, selbst wenn es uns gelingt, unter den derzeitigen Rahmenbedingungen einen Zusatznutzen zu zeigen, reicht das unter Umständen nicht aus, um einen angemessenen Erstattungsbetrag zu verhandeln. Doch auch dort kommt durch das Medizinforschungsgesetz jetzt Bewegung rein: Wer hierzulande forscht, soll zukünftig von diesen Regeln ausgenommen werden und so eine Art "Standort-Bonus" erhalten. Das ist ein Schritt nach vorn, der Innovationen “Made in Germany” honoriert.
Q: Wie kam es zu diesen Änderungen? Und was wünscht du dir für die Zukunft?
A: Wir haben miteinander gesprochen, die Bundesregierung hat uns zugehört und mit der Nationalen Pharmastrategie an vielen Stellen die richtigen Weichen gestellt. Ich würde mir wünschen, dass wir weiterhin gemeinsam transparente und faire Rahmenbedingungen schaffen und im Dialog bleiben: Lasst uns definieren, was in besonderen Situationen, etwa bei weniger häufigen Erkrankungen oder bei ganz neuen Ansätzen wie Gen-und Zelltherapien, die bestmögliche Evidenz ist und auf dieser Basis fair bewerten. Das schafft Sicherheit für uns als Industrie, für die Patient:innen, Ärzt:innen und Kostenträger. Mit der kürzlich veröffentlichten Nationalen Strategie zu Gen- und Zelltherapien, die das Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Auftrag gegeben hat, ist hier auch schon ein erster Schritt getan. Jetzt kommt es auf die Umsetzung an.
Q: Und denkst du, das könnte wirklich passieren?
A: Mein Motto ist “Optimismus ist Pflicht”, das ist von Karl Popper. Und ich finde, die Bundesregierung hat mit der Pharmastrategie einen Startpunkt gesetzt. Daran müssen jetzt alle gemeinsam anknüpfen. Die Strategie schließt ab mit “Best Practice Dialogen” - ich denke, das könnten tolle Formate werden, um die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam zu lösen.
Autor
Fabian Bockholt
Communications Manager
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