Es sind zwei Schicksale von jährlich 500.000 in Deutschland: Die junge Frau, die ich hier einfach Nathalie* nenne, ist 40 Jahre alt, vor sechs Monaten ist sie Mutter geworden. Jetzt ist sie unheilbar krank. Susanne hat bereits zwei Kinder, ihre Tochter wird bald konfirmiert, ihr Sohn ist ein oder zwei Jahre älter. Auch sie: unheilbar krank. Was können wir aus den beiden Schicksalen lernen, was sollte uns daran Hoffnung machen?
Ende 2019 geht Nathalie wegen anhaltendem Husten zum Arzt, außer leichten Kopfschmerzen und Kurzatmigkeit hat die Mutter eines sechs Monate alten Säuglings keine Beschwerden. Das Baby kam erst im Sommer per Kaiserschnitt zur Welt, ist gesund, Nathalie stillt, es ist kurz vor Weihnachten - und kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie.
Noch im Dezember ordnen ihre Ärzte ein PET-CT an. Bei der Computertomographie (CT) wird ihr Körper durchleuchtet. Hochauflösende Aufnahmen zeigen den Ärztinnen und Ärzten, was im Inneren vor sich geht, bilden Nathalies Organe, Gewebe und Knochen bis ins kleinste Detail ab. Das PET-CT aber ist etwas Besonderes: In der Radiologie verabreicht man Nathalie dazu einen radioaktiv markierten Zucker. Besonders energiehungrige Gewebe nehmen ihn gierig auf und zeigen auf den Aufnahmen eine intensive weiße Färbung. Und hungrig ist vor allem das, was unkontrolliert wächst und wuchert: Krebs.
Rund 10 cm misst der Tumor in ihrer Lunge. Hinzukommen Metastasen in Lymphknoten und Knochen und eine Hirnmetastase so groß wie ein Hühnerei direkt hinter Nathalies Auge.
Es ist März 2020, als Susanne von der Arbeit in Frankfurt nach Hause fährt. Im Auto fasst sie sich unwillkürlich an den Hals - und spürt Knoten. Sie sind flexibel, lassen sich drehen und hin- und herschieben. Susanne macht sich Sorgen. Zuhause angekommen, ruft sie eine befreundete Ärztin an. Direkt zum Hausarzt solle sie gehen. Woher die geschwollenen Lymphknoten an ihrem Hals kommen, bleibt aber auch nach mehreren Arztbesuchen zunächst unklar.
Im Video erzählt Susanne, wie sie mit ihrer Erkrankung umgeht und wie ihr Leben heute aussieht.
Einige Wochen später. Es ist der 16. Geburtstag ihres Sohnes, Susanne hat an diesem Tag einen Termin zur Computertomographie, die nun Klarheit bringen soll. Abends um halb neun klingelt das Telefon. Überall in ihrem Körper habe man geschwollene Lymphknoten entdeckt, Lymphdrüsenkrebs vermuten die Ärzte. In den Tagen und Wochen darauf folgen weitere Untersuchungen. Susanne hat Krebs, soviel ist klar, doch der erste Verdacht bestätigt sich nicht. Die Krebszellen, die man in Susannes Lymphknoten findet, scheinen Metastasen zu sein, deren Ursprung bleibt allerdings unklar. Der Primärtumor, der ständig Krebszellen in ihr Blut und ihre Lymphgefäße abgibt und so fast ihren gesamten Körper befallen hat, bleibt unentdeckt.
Nathalies Ärzte sind im Winter 2019 alarmiert. Trotz milder Symptome ist ihre Erkrankung weit fortgeschritten. Die junge Frau muss sofort behandelt werden. Bis vor wenigen Jahren stand Patientinnen wie Nathalie dazu nur eine Chemotherapie zur Verfügung. Schwere Nebenwirkungen gingen mit einer meist kurzen Lebenserwartung einher - oftmals blieb den Betroffenen kaum mehr als ein Jahr. Ende 2019 bieten sich Ärztinnen und Ärzten aber bereits deutlich bessere
Susanne wird mittlerweile in Fulda behandelt. Auch für ihre Erkrankung steht standardmäßig bislang nur die Chemotherapie zur Verfügung. Die Prognose ist schlecht: Sechs bis zwölf Monate überleben die Betroffenen mit CUP damit im Schnitt. Die Konfirmation der Tochter, der Schulabschluss der Kinder? Alles weit weg. Susanne ist verzweifelt, viele Termine muss sie allein wahrnehmen. Wegen der Pandemie darf ihr Ehemann sie zu den Untersuchungen und Gesprächen nicht begleiten - in diesen Momenten ist sie allein, während ihr Mann vor der Klinik ausharren muss. Die Ärztinnen und Ärzte in Fulda überweisen Susanne ins rund 200 Kilometer entfernte Heidelberg. Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) ist eines der besten und forschungsstärksten
Fast zur gleichen Zeit, im Februar 2020, wird Nathalie in der Berliner Klinik erneut untersucht. Ihr Arzt will wissen, wie sie die experimentelle Therapie verträgt - und vor allem, ob die Patientin auf den neuartigen Wirkstoff anspricht. Bereits die ersten Untersuchungen wenige Wochen nach Therapiebeginn zeigen: Nathalies Husten hat sich deutlich gebessert, auch die Kurzatmigkeit ist spürbar zurückgegangen. Knapp drei Monate nach Diagnose notiert ihr Arzt: “Sehr gute partielle Remission mit deutlicher Größenregredienz des Lungenherdes und der zerebralen Metastase”. Der Tumor schrumpft, ebenso die große Metastase in ihrem Kopf. Die Therapie schlägt an. Ein halbes Jahr nach der Diagnose im Juli 2020 sind Nathalies Symptome gänzlich verschwunden. Der Tumor in ihrer Lunge ist auf den CT-Aufnahmen praktisch nicht mehr zu sehen, von der großen Metastase in ihrem Gehirn ist nur noch ein schwacher Schatten zu erahnen.
In Heidelberg untersucht man Susannes Krebszellen derweil intensiv. Wie bei Nathalie nehmen die Spezialisten am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen das Tumorgewebe genauestens unter die Lupe. Sie hoffen, molekulargenetische Veränderungen zu entdecken, die eine gezielte Therapie des Tumors unklaren Ursprungs ermöglichen - und werden fündig. Auch bei Susannes Krebszellen findet sich eine genetische Veränderung, die dazu führt, dass sich Tumorzellen unkontrolliert vermehren und ausbreiten. Schnell nimmt man Susanne in eine passende
Wir treffen Susanne fast zwei Jahre später. Die Therapie schlägt nach wie vor an. Ihre Haare, die sie durch die drei Zyklen Chemotherapie verlor, sind wieder nachgewachsen, auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass die Frau, die vor uns sitzt, unheilbar krank ist.
Patienten und Patientinnen wie Susanne und Nathalie haben gekämpft und tun es noch: für sich selbst, für ihre Familien und für viele andere Patientinnen und Patienten, die von den Erkenntnissen, die während ihrer Therapie gesammelt werden, zukünftig profitieren können. Ohne Ärztinnen und Ärzte, die alles menschenmögliche dafür tun, dass Krebspatientinnen und -patienten die bestmögliche Behandlung erhalten, ohne Zugang zu moderner molekularer Diagnostik und ohne Zugang zu klinischen Studien, die Betroffenen innovative Therapien frühzeitig zugänglich machen, wäre ihr Kampf ein anderer. Die Geschichte der beiden Frauen macht nachdenklich: Was müssen wir tun, damit mehr Patientinnen und Patienten die umfassende Diagnostik bekommen, die eine wirksame Therapie erst ermöglicht? Wie schaffen wir es, dass auch zukünftig klinische Forschung hier in Deutschland stattfindet, damit Betroffene von innovativen Wirkstoffen frühstmöglich profitieren und Ärztinnen und Ärzte hierzulande Erfahrungen mit deren Einsatz sammeln können? Und damit aus wenigen Monaten Überleben vielleicht viele Jahre werden?
Die aktuelle Entwicklung gibt Anlass zur Sorge, denn klinische Forschung findet zunehmend in anderen Ländern und nicht mehr in Deutschland statt. Mit der Geschwindigkeit des medizinischen Fortschritts - vom Einsatz umfassender molekularer Diagnostik bis zum Zugang zu innovativen, immer
*Name wurde vom Autor geändert.
Autor
Fabian Bockholt
Communications Manager
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