Estland ist Vorbild für Gesundheitsdatennutzung

Estland, ein kleines baltisches Land mit einer Bevölkerung von 1,3 Millionen Menschen, hat sich als Vorreiter in der Nutzung von Gesundheitsdaten weltweit etabliert. Das Land zeichnet seine fortschrittliche digitale Infrastruktur aus und der politische Wille, eine moderne Gesundheitsversorgung zu schaffen. Die wohl wichtigste Voraussetzung für das estländische Erfolgsmodell liegt jedoch bei den Bürgern und Bürgerinnen, die – anders als in Deutschland - eine hohe Bereitschaft zeigen, ihre Gesundheitsdaten zu teilen. 

In diesem Blogbeitrag werfen wir einen Blick auf Estlands Erfolgsgeschichte und wie das Land mit Hilfe seiner Bürger und Bürgerinnen seine Position als Vorreiter in der Gesundheitsdatennutzung erreicht hat. Dafür haben wir mit Mart Vain von Roche Estland gesprochen.



Woher kommt die Bereitschaft der estnischen Bevölkerung ihre Gesundheitsdaten den Public Health Institutionen und der privaten Forschung zur Verfügung zu stellen? 

In den letzten Jahren hat Estland mit der digitalen Agenda 2030 einen Schwerpunkt auf die digitale Gesellschaft und digitale Lösungen gelegt. Dazu gehört ein starker Fokus auf Datenschutz, Datenqualität und die Verwendbarkeit von Daten für den öffentlichen und privaten Sektor. 

Die Bereitschaft der estnischen Bevölkerung, ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung zu stellen, ergibt sich aus dem Nutzen, den sie in der Bereitstellung und Verfügbarkeit ihrer Daten sieht. Es gibt mehrere Gesundheits-, aber auch Sozialdienste, die sich aufgrund vollständiger und qualitativ hochwertiger Datensätze erheblich verbessert haben. Kurz gesagt, die Menschen in Estland erkennen, dass die Bereitstellung von Daten eine Investition ist, die sich auszahlt. Nachdem es einige Erfolgsgeschichten gab, die den Wert der Freigabe von Daten demonstrierten, entschieden sich auch bislang zögerliche Menschen für das Teilen ihrer Daten.

Gibt es direkt persönliche Vorteile in der medizinischen Versorgung, die den einzelnen Bürgern und Bürgerinnen aufgrund des Teilens ihrer Gesundheitsdaten entstehen, oder handeln sie aus altruistischen Motiven im Sinne des Gemeinwohls? 

Viele Menschen teilen ihre Daten zum Wohle der Allgemeinheit, aber sie erleben auch persönliche Vorteile, so hat beispielsweise die Bereitstellung von Rettungsdienstdaten auf Patientenebene zur Entwicklung von “e-Ambulance” geführt. 

e-Ambulance kann einen telefonischen Notruf innerhalb von 30 Sekunden erkennen, den nächstgelegenen freien Rettungswagen finden und schnell an den Einsatzort schicken. Die Sanitäter erhalten gleichzeitig anhand des ID-Codes der Patient:innen die zeitkritischen Informationen wie Blutgruppe, Allergien, aktuelle Rezepte, letzte Behandlungen oder Schwangerschaft. Auf diese Weise erhalten die Patient:innen wesentlich schneller Hilfe als bisher und profitieren von besseren Behandlungsergebnissen in einer Akutsituation. 

Oder die e-Prescription-Lösung: als zentralisiertes, papierloses System für die Ausstellung und Bearbeitung von ärztlichen Verschreibungen reduziert sie den Aufwand und damit Kosten im Gesundheitswesen effektiv.

99,9 % aller Medikamente werden den estnischen Patient:innen über ein digitales Rezept ausgestellt.

Dabei sind Krankenhäuser und Apotheken verbunden, Ärzt:innen verschreiben Rezepte elektronisch, Patient:innen legen ihren Ausweis in der Apotheke vor und erhalten das Medikament. 

Das System ermöglicht, dass Est:innen ihre Medikamente auch im Ausland erhalten können (siehe EU4Health).

Welche positiven Auswirkungen hat die Nutzung von Gesundheitsdaten für die estnische Bevölkerung insgesamt und wie werden sie gemessen?

Wenn wir das große Ganze betrachten, dann kommen wir durch die Nutzung von Gesundheitsdaten der praktischen Umsetzung der Value-based Healthcare (VBHC) in Estland näher. Bei der wertorientierten Versorgung wird der Betrag, den die Leistungserbringer für ihre Dienste erhalten, an die Ergebnisse geknüpft, die sie für ihre Patient:innen erzielen, z.B. an die Qualität der Versorgung. Durch finanzielle Anreize werden Leistungserbringer stärker in die Pflicht genommen, die Behandlungsergebnisse für die Patient:innen zu verbessern. Die wichtigste Voraussetzung, um dies messen zu können, ist die Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Daten.

Ihrer persönlichen Einschätzung nach: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der politischen Geschichte Estlands als ehemaliger Teil der Sowjetunion und der heutigen Bereitschaft, persönliche Daten der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen?

Als Estland 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, verfügte es nur über einen kleinen Staatshaushalt von rund 130 Millionen Euro. Somit konnte es aufgrund von Geld- und Personalmangel keine traditionellen bürokratischen Strukturen anbieten.  Mindestens ebenso wichtig wie diese grundlegenden Herausforderungen war die Tatsache, dass in Tallinn seit den 1960er Jahren das Kybernetik-Institut der Sowjetunion beheimatet war, so dass IT-Talente bereits ansässig waren. Ein weiterer Faktor könnte die estnische Kultur gewesen sein: Die Est:innen sind nicht gerade das gesprächigste Volk der Welt, so dass die Digitalisierung für sie nicht nur Zeit und Geld sparen würde, sondern auch die Notwendigkeit, mit den Menschen in den Behörden zu interagieren. All dies kam 1994 zusammen, als das Parlament den ersten Entwurf einer Digitalisierungspolitik unterzeichnete. Diese Entwicklungen basierten also sowohl auf der bloßen Notwendigkeit als auch auf einer zukunftsorientierten Denkweise.

Verfolgt Estland bei der Nutzung von Gesundheitsdaten Partnerschaften mit anderen Ländern, die eine ähnlich moderne Ausrichtung in der Gesundheitsdatennutzung auszeichnet?

Ja, absolut. Finnland ist einer der wichtigsten Partner Estlands bei der Entwicklung länderübergreifender elektronischer Lösungen. Obwohl noch ein langer Weg vor uns liegt, gibt es bereits Erfolgsgeschichten. Zum Beispiel bei elektronischen Rezepten – seit Januar 2019 können die ersten EU-Patient:innen digitale Rezepte verwenden, auch in einem anderen EU-Land einlösen. Finnische Patient:innen können nun in eine Apotheke in Estland gehen und die von ihrem Arzt in Finnland verschriebenen Medikamente elektronisch abrufen. Natürlich haben die Est:innen das gleiche Privileg in Finnland. 

Estland ist seit 2004 Mitglied in der EU. Wie blicken die Est:innen auf die EU-Initiative eines europäischen Gesundheitsdatenraums? Wie aktiv haben sie sich in die politischen Verhandlungen zum EHDS mit eingebracht?

Estland ist im Allgemeinen für den Vorschlag eines gemeinsamen Datenraums, aber es gibt keine große politische Debatte zu diesem Thema. Es handelt sich eher um eine Diskussion auf ministerieller Ebene, die von Spitzenbeamten geführt wird. Es wurden mehrere Veranstaltungen organisiert, bei denen Bürger und Bürgerinnen und Unternehmen ihre Meinung zu dem Vorschlag äußern konnten. Estlands Position, die von allen interessierten Parteien, einschließlich interessierter Einzelpersonen, gebilligt wurde, ist die folgende: 

  • Unterstützung der Umsetzung des Rechtsrahmens für die Nutzung von Primär- und Sekundärdaten.

  • Unterstützung des Rechts des Einzelnen auf Zugang zu seinen digitalen Gesundheitsdaten.

  • Unterstützung der Schaffung zentraler Systeme, die den Zugang zu Gesundheitsdaten (Primär- und Sekundärnutzung) ermöglichen und einen übermäßigen Verwaltungsaufwand vermeiden.

  • Der europäische Gesundheitsdatenraum muss auf Sicherheit und Zuverlässigkeit beruhen.

  • Der Zugang zu Gesundheitsdaten muss durch eine Identifizierung auf höherer Ebene ermöglicht werden. 

In Deutschland ist das zur Verfügung stellen von Gesundheitsdaten für die forschende Pharmaindustrie mit vielen Ängsten verbunden. Welchen Ruf hat die Gesundheitswirtschaft in Estland und inwiefern hängt das mit der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, ihre Daten zu teilen, zusammen?

Estland zeichnet sich dadurch aus, dass die Bürgerinnen und Bürger einen Überblick darüber erhalten, wer ihre Daten verwendet und wie diese Daten verwendet werden (z.B. Gesundheitsinformationen im Patientenportal). Ein Monitor für die Nutzung personenbezogener Daten wurde geschaffen, befindet sich aber noch in der Anfangsphase. Daher bietet der Staat noch keinen vollständigen Überblick darüber, wann und wie die Daten von Personen oder Unternehmen genutzt werden, aber wir sind auf dem Weg, dies vollständig transparent zu machen. 

Estland setzt als Cybersicherheitstechnologie Blockchain zur schnellen und unveränderlichen Identifizierung von

Änderungen in digitalen Daten und intelligenten Geräten ein. Die Blockchain-Technologie ermöglicht es, alle Änderungen an digitalen Daten, egal wie klein, egal von wem, sofort und fehlerfrei zu erkennen. Seit 2012 wird die Blockchain in Estland in der Produktion eingesetzt, um nationale Daten, elektronische Dienste und intelligente Geräte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor zu schützen. 

Eine weitere ermutigende Komponente sind die klaren Regeln, die gelten. Wenn Menschen ihre Daten der Industrie anvertrauen, wissen sie, dass die Daten in Form von Statistiken oder in pseudonymisierter oder anonymisierter Form bereitgestellt werden - in jedem Fall können die Menschen sicher sein, dass ihre Identität nicht preisgegeben wird. 

Diese Sicherheitsvorkehrungen erleichtern den Menschen, ihre Daten der Industrie anzuvertrauen. Es gibt auch in Estland immer noch Bedenken, aber diese Ängste haben aufgrund der Transparenz abgenommen.

Wie ist der Zugang zu den estnischen Gesundheitsdaten für Pharmaunternehmen wie Roche geregelt?

Die Regeln sind für alle Unternehmen des privaten Sektors gleich. Wenn Statistiken auf der Grundlage von Patientendaten benötigt werden, sind keine Genehmigungen oder Erlaubnisse erforderlich. Möchte ein privatwirtschaftliches Unternehmen auf Patientendaten selbst zugreifen, ist die Genehmigung der Ethikkommission erforderlich. Außerdem muss der Eigentümer der Datenbank (Datenschutzbeauftragter und Rechtsabteilung) seine Zustimmung erteilen.

Werden Erkenntnisse, die die private Gesundheitsforschung durch die Nutzung der estnischen Gesundheitsdaten gewinnt, an das öffentliche Gesundheitssystem zurückgespielt?

Ja, in den meisten Fällen ist dies der Fall. Der öffentliche Sektor hat zunehmend damit begonnen, diese Ergebnisse bei der Entscheidungs- und Politikgestaltung zu berücksichtigen. Eine Möglichkeit dazu sind öffentlich-private Partnerschaften (“Public-Private-Partnership”, PPP) - erst vor ein paar Wochen wurde ein PPP-Projekt zwischen drei estnischen Kliniken, den Leistungsträgern,
dem Ministry of Social Affairs und Roche Estland abgeschlossen. Darin wurden die Phasen der Diagnose und Behandlung von Lungenkrebspatient:innen kartiert. Dieses Projekt war die erste umfassende PPP zwischen Roche und anderen Ökosystempartnern und ebnet hoffentlich den Weg für weitere Kooperationen mit dem Ziel, ein besseres Behandlungsergebnis für Patient:innen zu erzielen.

Hinweis: Das neue ermöglicht auch Patient:innen in Deutschland, ihre Gesundheitsdaten freiwillig zu teilen. Versicherte haben dann die Möglichkeit, die in ihrer elektronischen Patientenakte gespeicherten Daten freiwillig für ein bestimmtes Forschungsvorhaben oder für bestimmte Bereiche der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung zu stellen.

Interviewpartner:
Mart Vain
Head of Healthcare Innovation and Public Affairs Unit; Digital Ecosystem Lead, Roche Estonia

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