Die Geschichte der Antikörper beginnt im Mai 1975. Damals reichten Georges Köhler, César Milstein und Niels Jerne, drei zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unbekannte Forscher, einen Bericht beim Fachjournal “Nature” ein. In ihrer Arbeit beschreiben sie, wie monoklonale Antikörper, also Proteine, die sich gegen ein einzelnes Ziel richten, hergestellt werden können. Im abschließenden Satz ihrer Arbeit stellen die Wissenschaftler die Vermutung auf, dass diese Zellkulturen möglicherweise wertvoll für die medizinische Anwendung sein könnten.
Heute steht außer Frage: Mit dieser Vermutung sollten die drei Forscher recht behalten. Denn mit ihrer Arbeit haben Köhler, Milstein und Jerne nicht weniger als eine bahnbrechende Idee formuliert - eine echte Sprunginnovation, die die Geschichte der modernen Medizin nachhaltig prägen sollte. Dank der von Köhler, Milstein und Jerne entwickelten Methode war es erstmals möglich, Antikörper, die sich präzise gegen ein therapeutisches Ziel richten, in unbegrenzter Menge herzustellen. Rund ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung ihrer Arbeit wurden die drei Wissenschaftler für ihre Forschung mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.
Und doch brauchte es noch weitere Jahrzehnte der Forschung und Entwicklung, bis Antikörper den Einzug in die moderne Krebstherapie fanden. Erst kurz vor der Jahrtausendwende brachte Roche den ersten monoklonalen Antikörper in der Hämatoonkologie zur Zulassung. Ein Meilenstein, der nicht nur einen neuen Standard in der Behandlung von Patient:innen mit hämatologischen Erkrankungen setzte, sondern gleichzeitig auch Forscher:innen weltweit zur Weiterentwicklung von Antikörpertherapien in der Krebsmedizin anregen sollte.
Rückblickend hat sich die Antikörpertechnologie als wahrer Katalysator für Innovationen erwiesen. Die Pionierarbeit von Köhler, Milstein und Jerne bildete die Grundlage für die Entwicklung zahlreicher wegweisender Therapieansätze. Seien es moderne Krebsimmuntherapien mit Checkpoint-Inhibitoren, komplexe Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, die hochwirksame Zytostatika in die Krebszellen einschleusen, oder bispezifische Antikörper, die gleich mehrere Zielstrukturen auf Tumorzellen adressieren - Antikörper-Technologien prägen die moderne Medizin und tragen dazu bei, dass sich die Überlebenschancen von Patient:innen mit Krebs in den vergangenen Jahren massiv verbessert haben.
Beispielhaft für den Fortschritt, den Antikörper-Technologien Patient:innen bringen, steht auch die Hämatologie. In der heutigen Ausgabe von Snackable Science schauen wir darauf, wie Antikörper die Hämatologie verändert haben - und welches Potential moderne Antikörper-Technologien für die Zukunft der Hämatologie bieten. Dazu haben wir mit unserem Kollegen Dr. Klaus Finzler, Global Medical Director für die Hämatologie bei Roche in Basel, gesprochen.
Q: Lieber Klaus, die heutige Ausgabe von Snackable Science dreht sich um Antikörper. Daher als erstes die Frage: Wie funktionieren diese Medikamente überhaupt?
A: Antikörper sind Proteine, die dadurch wirken, dass sie spezifische Strukturen - das sind spezielle Rezeptoren bzw. sogenannte Antigene - auf der Oberfläche von Krebszellen erkennen und gemäß dem Schlüssel-Schloss-Prinzip zielgerichtet an diesen andocken. Dadurch können beispielsweise Signale, die das Tumorwachstum anregen, gezielt blockiert werden. Ein anderer therapeutischer Effekt beruht darauf, dass die Antikörper die Tumorzellen markieren und so letztlich unsere Immunzellen anlocken, die die Krebszellen dann bekämpfen und zerstören. Die Antikörper-Technologie wurde dabei in den vergangenen Jahren kontinuierlich weiterentwickelt. So gibt es mittlerweile beispielsweise auch Antikörper, die gleichzeitig an zwei Zielstrukturen binden können, das sind die sogenannten bispezifischen Antikörper. Diese können Tumorzellen und die sie bekämpfenden Immunzellen quasi zusammenführen, wodurch der Therapieerfolg möglicherweise verbessert wird.
Q: Gibt es neben den bi-spezifischen Antikörpern weitere Weiterentwicklungen im Bereich der Antikörper-Technologien, die heute bereits in der Versorgung von Patient:innen zum Einsatz kommen?
A: Ja, absolut. Seit der Einführung der ersten monoklonalen Antikörper vor über 25 Jahren wurden die Technologien kontinuierlich weiterentwickelt - sowohl im Bereich der Hämatologie als auch für die Behandlung von soliden Krebserkrankungen. Beispielhaft für diese Weiterentwicklung stehen neben den bispezifischen Antikörpern auch sogenannte
Q: Man hört immer wieder von Antikörper-Therapien und individualisierten Therapien. Sind diese gleichzusetzen?
A: Nein, Antikörper-Therapien stehen für eine fortschrittliche, möglicherweise auch personalisierte Behandlungsstrategie, sind aber nicht gleichzusetzen mit hochindividuellen Therapien, wie beispielsweise den CAR-T-Zelltherapien, die heute insbesondere bei fortgeschrittenen hämatologischen Erkrankungen eingesetzt werden. Beide Therapien verfolgen die Strategie, das körpereigene Immunsystem gegen die Krebszellen zu aktivieren - gleichwohl sind CAR-T-Zelltherapien in Herstellung und Anwendung deutlich komplexer. Insofern bin ich auch fest davon überzeugt, dass Antikörper-Technologien auch in Zukunft die Grundlage für die Behandlung hämatologischer Erkrankungen bleiben werden: Im Gegensatz zu den individuell angepassten Zelltherapien sind sie leichter verfügbar und zugänglicher; sie lassen sich in großen Mengen herstellen, lagern und schnell einsetzen. Ihre Anpassungsfähigkeit erlaubt es zudem, sie rasch weiterzuentwickeln und zu optimieren, um auf neue Zielstrukturen oder Krankheitsmechanismen zu reagieren. Außerdem können Antikörper mit anderen Therapieansätzen kombiniert werden, um synergistische Effekte zu erzielen.
Q: Bleiben wir beim Thema Hämatologie. Wie hat sich die Therapielandschaft in der Hämatologie dank der neuen Behandlungsstrategien in den vergangenen Jahren entwickelt?
A: Die Behandlungsmethoden in der Hämatologie haben sich durch neue Therapieformen sowie ein vertieftes Verständnis der Erkrankungen erheblich weiterentwickelt - und mit den verschiedenen Antikörper-Technologien, aber auch den CAR-T-Zelltherapien, können Ärztinnen und Ärzte heute auf eine Vielzahl von Behandlungsstrategien zurückgreifen und die Behandlung an die jeweilige Krankheitssituation und die Bedürfnisse von Patient:innen anpassen. Gleichzeitig sehen wir auch weitere Fortschritte, zum Beispiel Verbesserungen in der Transplantationsmedizin, einschließlich fortschrittlicher HLA-Typisierung, Vorbehandlungsoptionen und unterstützender Therapien, welche die Erfolgsraten und die Sicherheit von Stammzelltransplantationen verbessert haben. Für Patient:innen bedeuten diese Entwicklungen insgesamt eine verbesserte Überlebenschance und Lebensqualität - gleichzeitig sehen sich Behandler:innen aber auch mit einer zunehmenden Komplexität und damit einhergehend der Notwendigkeit zu mehr interdisziplinärer Zusammenarbeit konfrontiert.
Q: Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie schätzt Du die Zukunft der Hämatologie ein?
A: Ich habe keine Glaskugel, in die ich reingucken kann. Meine Erfahrung zeigt mir aber, dass die Therapielandschaft in der Hämatologie auch in Zukunft einem kontinuierlichen Wandel unterworfen sein wird. Wie bereits erwähnt, wird die Forschung niemals stillstehen, sondern fortwährend neue Therapien und Diagnostika hervorbringen - und bei Roche forschen wir an dieser Zukunft. Unser Hauptziel ist es, die Nebenwirkungen und Toxizität der derzeitigen Therapien weiter zu reduzieren. Zugleich streben wir danach, neue Behandlungsansätze zu entdecken und aktuelle Standards zu übertreffen.
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