EU-HTA: Gemeinsam an den letzten Stellschrauben drehen
Die neue europäische HTA (Health Technology Assessment) Regulierung hat zum Ziel, den Zugang zu Medikamenten durch eine EU-weite Harmonisierung der klinischen Bewertung zu verbessern. Noch gibt es Spielraum, um die Grundlage dafür zu legen, dass diese wichtige Ambition nicht bereits im Ansatz stecken bleibt. Ideen von Ansgar Hebborn, Head Access Policy Affairs Europe bei Roche.
Das 1995 eingeführte zentralisierte EU-Zulassungsverfahren für Arzneimittel ermöglicht es pharmazeutischen Unternehmen, Arzneimittel auf der Grundlage einer einzigen Zulassung in allen EU-Mitgliedsstaaten sowie in Island, Liechtenstein und Norwegen zu vermarkten und Patient:innen und Angehörigen der Gesundheitsberufe zur Verfügung zu stellen. Auch wenn es überraschend klingt: Das bedeutet nicht, dass alle Patient:innen und deren behandelnde Ärzt:innen zum gleichen Zeitpunkt auf finanziell erschwingliche Art und Weise Zugang zu zugelassenen Arzneimitteln haben. So variiert die durchschnittliche Zeit bis zur Kostenerstattung für innovative Therapien in den Ländern der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums zwischen 133 Tagen in Deutschland und über 899 Tagen in Rumänien, wie aus der Patient W.A.I.T. Indicator Survey von 2021 hervorgeht. Grund hierfür sind - nur um einige Beispiele zu nennen - langsame und mehrstufige Kostenerstattungsverfahren, verspätete Einleitung von Nutzenbewertungen und höchst unterschiedliche Evidenzanforderungen. Mit der neuen EU-HTA Verordnung soll sich dies bald ändern.
Eine Chance für Patient:innen
Seit dem 11. Januar 2022 ist die Verordnung in Kraft. Sie sieht unter anderem eine gemeinsame klinische Bewertung neuer Arzneimittel auf EU-Ebene ab Januar 2025 vor. Die Bewertung des Nutzens und die Preisverhandlung werden auch zukünftig auf nationaler Ebene erfolgen.
In einer ersten Phase beschränkt sich die gemeinsame Bewertung auf onkologische Arzneimittel sowie neuartige Gen- und Zelltherapeutika (ATMP). So soll nicht nur der Zugang zu neuen Medikamenten verbessert, sondern auch der Aufwand für HTA-Behörden und Unternehmen verringert werden. Drastische, auf verschiedenartigen klinischen Bewertungen beruhende Unterschiede im Marktzugang in den europäischen Ländern sollen als Resultat bald der Vergangenheit angehören. Für die am Prozess beteiligten Stakeholder bedeutet dies zwangsläufig eine signifikante Änderungen im Arbeitsablauf.
Weitere Harmonisierung notwendig
Die europäische HTA-Bewertung kann allerdings nur gelingen, wenn sich die Vertreter der Mitgliedstaaten auf gemeinsame Methoden und Informationsanforderungen sowie effiziente HTA-Prozesse auf EU-Ebene einigen können. Dieses Ziel scheint bislang außer Sicht. Das Risiko besteht derweil, dass die zahlreichen teils divergierenden nationalen Anforderungen und Methoden lediglich auf europäische Ebene ausgelagert werden. Dort würden sie dann ohne Harmonisierung nebeneinander durchgeführt werden. Die in der Regulierung explizit geforderte Berücksichtigung der Besonderheiten der Evidenzgenerierung für bestimmte Therapiebereiche (z.B. bei seltenen Erkrankungen) ist in den vorbereitenden Arbeiten bisher zudem nicht aufgegriffen worden. Lebenswichtige Therapien könnten so schlichtweg durch die HTA-Bewertung fallen - mit negativen Auswirkungen für all die Patient:innen, die auf diese Optionen hoffen. Hier muss in der nächsten Phase zur Implementierung der Regulierung die neue EU-Koordinierungsgruppe einen wichtigen Schwerpunkt setzen, harmonisierte HTA-Kriterien sowie methodische Leitlinien nicht nur anzustreben, sondern auch einführen.
Beteiligungsmöglichkeiten ausweiten
Der HTA-Prozess involviert viele unterschiedliche Interessengruppen, von Patient:innen über Behörden bis hin zu Unternehmen. Alle bringen unterschiedliche, aber wichtige Perspektiven mit, die die Qualität, Relevanz und Effizienz der gemeinsamen europäischen Bewertungen entscheidend aufwerten können.
Unternehmen sollten die Möglichkeit haben, ihr einzigartiges Know-How in produktspezifische Bewertungsverfahren einzubringen. Diesbezügliche Umsetzungsvorschläge wurden allerdings bislang nicht aufgegriffen. In den aktuellen Vorschlägen bleibt die Beteiligung von Unternehmen an den einzelnen EU-HTA-Prozessschritten außergewöhnlich limitiert und hinter den heutigen vergleichbaren nationalen Prozessen in den EU Mitgliedsstaaten zurück.
Zeitnaher Aufbau ausreichender Beratungskapazität
Wenn Evidenzanforderungen schon frühzeitig mit der europäischen Zulassungsbehörde EMA- und HTA-Institutionen geklärt werden können, hat dies Vorteile für Patient:innen und beschleunigt den weiteren Prozess. Die EU-HTA-Regulierung sieht daher die Möglichkeit für Unternehmen vor, Beratungsgespräche mit den entsprechenden Institutionen bereits während des Arzneimittelentwicklungsprozesses durchzuführen (sogenannte “Joint Scientific Consultations” - JSC). Dies ermöglicht wertvolle Unterstützung von Unternehmen für die Planung und Durchführung klinischer Studien, die den Anforderungen zukünftiger gemeinsamer EU-Bewertungen genügen sollen. Allerdings gestaltet sich der Aufbau entsprechender Beratungskapazitäten auf europäischer Ebene sehr zögerlich. Hier besteht dringender Aufholbedarf, damit möglichst viele Unternehmen die Gelegenheit erhalten, Evidenzanforderungen für ihre Produkte gemeinsam mit EU-Zulassungsbehörde und HTA-Institutionen zu klären. Das gilt insbesondere für alle, deren Produkte ab 2025 in den Einführungsjahren der neuen Verordnung bereits nach der gemeinsamen Bewertung evaluiert werden.
Ansatzpunkte für die Sicherstellung einer optimalen Umsetzung der EU-HTA-Regulierung im Hinblick auf zeitnah erstellte, qualitativ hochwertige und relevante Grundlagen für nationale Zugangsentscheidungen über innovative Arzneimittel gibt es also insgesamt genug. Die verbleibenden knapp zwei Jahre bis zur ersten gemeinsam durchgeführten Bewertung auf EU-Ebene werden schnell vergehen. Es ist jetzt die Zeit, gemeinsam an den letzten Stellschrauben zu drehen.
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