Beitrag vom 21. Januar 2021
Viele Prozesse verlaufen in unserem Körper ganz unbemerkt. Zumindest solange, bis eben nicht mehr alles nach Plan läuft. In diesem Fall ist oft die Rede von Mutationen, durch die Krebs entsteht. Aber auch von Gendefekten, die schwere Krankheiten wie Spinale Muskelatrophie hervorrufen. Besonders für Gendefekte gab es bislang oft keine Therapiemöglichkeit. Das könnte sich bald ändern. Michele Melhem, Head, Pipeline Strategy and Launch Readiness bei der Roche Pharma AG, erzählt im Gespräch von möglichen Chancen aber auch von zu erwartenden Herausforderungen von neuartigen Gentherapien für unser Gesundheitssystem.
Liebe Michele, Gentherapien sind die große Hoffnung für die Behandlung zahlreicher Krankheiten. Wie funktionieren sie?
Die Gentherapie, auch menschlicher Gentransfer genannt, ist ein medizinisches Fachgebiet, bei dem die therapeutische Einbringung von Nukleinsäuren in die Zellen eines Patienten als Medikament zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt wird.
Ist dies ein sehr neues Forschungsgebiet? Seit wann arbeiten Wissenschaftler daran?
Die erste therapeutische Anwendung des Gentransfers sowie die erste direkte Insertion von menschlicher DNA in das nukleare Genom wurde von French Anderson in einem Versuch bereits im September 1990 durchgeführt. Das Gebiet der Gentherapie hat aber in den letzten zwei Jahrzehnten einen weiten Weg zurückgelegt - und die Gentechnologie insgesamt gigantische Sprünge gemacht. Das menschliche Genom wurde in seiner Gesamtheit sequenziert und die Kosten für die Sequenzierung sind um das 100.000-fache gesunken. CRISPR-Cas9 hat sich als ein präzises und effizientes Werkzeug zur Bearbeitung von Genen erwiesen. Künstliche Intelligenz und tiefes Lernen unterstützen beim Design von Molekülen.
Wie viele Gentherapien sind denn bereits zugelassen?
In den letzten zehn Jahren wurden in Europa nur 15 Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs), d.h. Zell- und Gentherapien, zugelassen. Mit vier Rücknahmen haben nur noch acht von ihnen eine gültige Marktzulassung.
Ist es einfach, genügend Patienten aufzunehmen, um aus diesen klinischen Studien allgemein gültige Ergebnisse zu gewinnen?
Es gibt einige Hürden, einige davon sind aber besonders herausfordernd. So ist beispielsweise die Patientenpopulation für eine auf Genetik basierende, also mutationsbasierte, Studie kleiner als die für eine krankheitsbasierte klinische Standardstudie, da genetische Tests viele potenzielle Teilnehmer an klinischen Studien effektiv ausschließen. Darüber hinaus ist diese sowieso schon kleine Patientenpopulation oft schwer zu identifizieren. Wenn die Einschlusskriterien für eine klinische Studie Mutationen in einem bestimmten Gen einschließen, wissen die Ärzte im Allgemeinen nicht, welche Patienten für die Studie in Frage kommen.
Obwohl die oben genannten Herausforderungen in den meisten auf Genetik basierenden klinischen Studien vorhanden sind, sind sie nicht unüberwindbar. Durch die Befolgung einiger wichtiger best Practices, wie z.B. die Verfolgung eines vielschichtigen Ansatzes bei der Patientenidentifikation und das strategische Denken über Gentests, können die Risiken, die durch diese Hindernisse entstehen, gemindert werden und einen reibungslosen Ablauf ermöglichen.
Welche Möglichkeiten bieten Gentherapien?
Es herrscht eine unglaubliche Begeisterung, die Gentherapie voranzubringen, denn sie konzentriert sich in erster Linie auf die Behandlung und potenzielle Heilung von Krankheiten mit erheblichem ungedecktem Bedarf, die behindernd oder tödlich sind. Gentherapien haben das Potenzial, die Versorgung zu revolutionieren und dadurch das Leben von Menschen, die an genetischen Störungen leiden, und ihrer Familien zu verbessern.
Diese Möglichkeiten haben aber auch Kosten - und stehen deshalb in der Kritik. Welche Herausforderungen sehen Sie in diesem Zusammenhang?
Das Haupthindernis wird der Preis und die Zugänglichkeit sein. Die Unterstützung von Patienten und Öffentlichkeit für die Gentherapie ist entscheidend für ihren Fortschritt. Öffentliche und private Unternehmen müssen nachhaltig in das Versprechen investieren, genetische Krankheiten zu heilen, indem sie fehlerhafte Gene verändern oder ersetzen.
Der Ausgangspunkt bei Gesprächen über Kosten ist immer die Überlegung, wie die Hersteller flexibel mit den Gesundheitssystemen zusammenarbeiten. Schließlich ist die Gentherapie eine einmalige Behandlung mit lebenslangem Nutzen. Ein Ansatz ist daher, dass wir die Zahlungen über die Zeit verteilen, indem wir ergebnisorientierte Preismodelle nutzen und Daten aus dem Versorgungsalltag verwenden, wenn das für einen Kostenträger oder einen Versicherer von Interesse ist.
Was bedeutet das für unsere Gesundheitssysteme?
Gentherapien stellen das Paradigma der gegenwärtigen Gesundheitssysteme in Bezug auf vier Hauptparameter in Frage: Kapazität, Erschwinglichkeit, Wertanerkennung und Ergebnissicherheit. Wir setzen uns für die Entwicklung maßgeschneiderter Zugangslösungen ein, die einen schnellen, breiten und nachhaltigen Zugang zu Innovationen schaffen. Wir sind bereit, unseren Teil dazu beizutragen, indem wir partnerschaftlich mit verschiedenen Interessengruppen beim Aufbau von Kapazitäten, bei der Anerkennung von Werten, bei der Ergebnissicherheit und bei Finanzierungslösungen zusammenarbeiten.
Michele Melhem
Head, Pipeline Strategy and Launch Readiness
Roche Pharma AG
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