Lieferketten der industriellen Gesundheitswirtschaft sind hochkomplex und doch oft erstaunlich fragil. Unterschiedliche IT-Systeme, papierbasierte Prozesse, fehlende Datenstandards: Schon kleine Störungen im Ablauf können große Auswirkungen auf die Versorgung haben – sei es durch ein fehlendes Dokument, eine verzögerte Lieferung oder nicht abgestimmte Produktionskapazitäten.

Genau hier setzt HealthTrack-X an. Das Projekt unter der Konsortialführung der Roche Pharma AG ist Teil der Digitalisierungsinitiative Manufacturing-X des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWE) und steht exemplarisch für eine neue Ära der industriellen Gesundheitswirtschaft. Acht Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Verbände entwickeln gemeinsam einen dezentralen, vertrauenswürdigen Datenraum, der als Grundlage für die Digitalisierung und Vernetzung von Produktions- und Lieferketten dienen soll.

Dabei geht es nicht nur um technologische Lösungen, sondern vor allem um ein Umdenken: eine neue Art der Zusammenarbeit – weg von einer isolierten Arbeitsweise (Silos), hin zu Vertrauen, Standardisierung und gemeinsamen Zielen. Nur wenn alle Akteure – von der Produktion über die Logistik bis zur Apotheke – zusammenarbeiten, kann die Gesundheitswirtschaft widerstandsfähiger, effizienter und nachhaltiger werden.

Wie kann man diesen Wandel erfolgreich gestalten? Welche Rolle spielen Vertrauen, Datenhoheit und interoperable Technologien? Und wie lässt sich so ein Projekt im realen Alltag der Gesundheitswirtschaft verankern?

Darüber haben wir mit Florian Hoffmann, Konsortialführer und Head of Customer Operations & Innovation Center of Excellence bei Roche Pharma AG, sowie mit Ege Hüsemoğlu, Projektreferent beim BDI, gesprochen.

Florian Hoffmann (rechts) und Ege Hüsemoglu (links)

Q: Lieber Florian, lieber Ege, warum ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, um ein Projekt wie HealthTrack-X zu starten?

Ege: Die Gesundheitswirtschaft ist extrem vielschichtig und geprägt von einer großen Vielfalt an Akteuren. Ob Hersteller, Logistikunternehmen, Apotheken, Aufsichtsbehörden - zu oft arbeiten sie nebeneinander statt miteinander. Jeder für sich, oft mit eigenen, oftmals unternehmenseigenen Systemen und Prozessen. Das macht die Lieferketten intransparent, unübersichtlich und anfällig für Störungen. Ein greifbares Beispiel aus dem Alltag: Viele Unternehmen verwalten Eingangsrechnungen, Lieferscheine und andere Warenbegleitdokumente noch immer überwiegend in Papierform. Selbst bei digitalen Formaten mangelt es häufig an einheitlichen Standards. Genau hier setzen wir an: Mit HealthTrack-X wollen wir die Digitalisierung und Standardisierung der Produktions- und Lieferketten der industriellen Gesundheitswirtschaft (iGW) vorantreiben und zugleich zeigen, dass Zusammenarbeit nicht Kontrollverlust bedeutet, sondern Vertrauen und Stabilität schaffen kann. Wir bauen einen Datenraum auf, in dem sich Unternehmen vernetzen können, ohne ihre Souveränität einzubüßen.

Florian: Die Art, wie wir Lieferketten heute organisieren, ist schlicht nicht mehr zeitgemäß. Es gibt zu viele Einzellösungen, zu viele Systembrüche. Wir sehen im Rahmen von HealthTrack-X ein großes Potenzial, auch unsere Prozesse effizienter zu gestalten. Dabei ist der Gedanke, Daten standardisiert zu teilen, für uns als Industriepartner nicht neu. Wir übertragen die Grundidee von Manufacturing-X - also den Aufbau vertrauensvoller Datenräume in strategischen Industriezweigen - auf die Produktions- und Lieferketten der Gesundheitswirtschaft: Daten standardisiert teilen, Prozesse harmonisieren, Doppelarbeit vermeiden. Das spart Geld, Nerven und setzt Effizienzpotenziale frei, die an anderer Stelle genutzt werden können.

Q: Worin liegt der praktische Mehrwert von HealthTrack-X für die tägliche Arbeit entlang der Lieferkette?

Florian: Es geht um Effizienz. Wir denken in konkreten Anwendungsfällen: digitale Warenbegleitdokumente, automatisierte Bestandsmeldungen gegen Lieferengpässe, standardisiertes CO₂-Reporting. Das sind keine Zukunftsvisionen mehr, sondern Aufgaben, die wir gemeinsam lösen können - wenn wir jetzt anfangen.

Q: Wie stellt Ihr sicher, dass sensible Informationen geschützt bleiben und trotzdem Mehrwert generieren?

Florian: Wir arbeiten mit einem dezentralen Datenraum, der auf den Technologien von Gaia-X [1] basiert. Das heißt: Jeder Akteur behält die Kontrolle über seine Daten. Es gibt keine zentrale Instanz, die Informationen sammelt und über alles wacht. Stattdessen sorgen interoperable Schnittstellen dafür, dass relevante Daten sicher, standardisiert und nachvollziehbar ausgetauscht werden können. Die Datenhoheit bleibt dabei unangetastet. Ein sogenannter Datentreuhänder erhält ausschließlich Zugriff auf aggregierte, nicht-personenbezogene Informationen - etwa zur Verfügbarkeit kritischer Arzneimittel. Konkret testen wir drei Anwendungsfälle, die als Proof of Concept für den neuen Datenraum dienen:

Erstens sollen Warenbegleitdokumente bei Arzneimitteln digitalisiert und vereinheitlicht geteilt werden. Das reduziert den Aufwand, beschleunigt Prozesse und ermöglicht Rückverfolgbarkeit.

Zweitens sollen im Rahmen des Datenraums aggregierte Informationen zu Lagerbeständen von Arzneimitteln geteilt werden können, sodass ein Frühwarnsystem für kritische Medikamente möglich wird - ohne operative Details offenzulegen.

Drittens entwickeln wir gemeinsam ein branchenweites Vorgehen, um die CO₂-Bilanz entlang der Lieferkette transparent und vergleichbar zu machen. Das fördert Nachhaltigkeit und schafft regulatorische Klarheit.

Damit diese Anwendungsfälle skalierbar und praxistauglich umgesetzt werden können, arbeiten wir gemeinsam an einem Open-Source-Konnektor, einer standardisierten Schnittstelle für den sicheren Austausch von Informationen. Dieser technische Baustein soll es Unternehmen ermöglichen, sich unabhängig von bestehenden proprietären IT- Landschaften unkompliziert in den Datenraum einzubinden. Ziel ist es, eine wiederverwendbare Infrastruktur zu schaffen, die sich als offener Standard etablieren kann - innerhalb von HealthTrack-X und darüber hinaus.

Auf lange Sicht eröffnet die Datenraumtechnologie noch weitere Potenziale: Sie lässt sich etwa auf die Entwicklung digitaler Zwillinge [2] übertragen. Das sind virtuelle Abbilder realer Systeme. Diese könnten genutzt werden, um zusätzliche Parameter wie Produktions- oder Transportbedingungen zu erfassen, Wechselwirkungen sichtbar zu machen und auf dieser Basis präzisere Prognosen oder Simulationen für die Versorgungssicherheit zu erstellen.

HT-X bearbeitet derzeit drei Anwendungsfälle. Perspektivisch ließe sich die Datenraumtechnologie auch auf andere Parameter übertragen, etwa mittels eines digitalen Zwillings, um zusätzliche Informationen zu erfassen und zu übermitteln.

Ege: Allerdings funktioniert diese Technik nur, wenn sie in einen vertrauensvollen Rahmen eingebettet ist. Dieser ist dadurch gegeben, dass es keine zentrale Kontrollinstanz gibt, die alles sieht. Wir sind ein Netzwerk, das Vertrauen ermöglicht, das wachsen und sich anpassen kann. Jeder behält die Hoheit über die eigenen Daten und trotzdem entsteht ein Mehrwert für alle. Das ist der eigentliche kulturelle Wandel.

Q: Der Begriff „Vertrauen“ scheint essentiell zu sein, wenn es um die gemeinsame Nutzung von Daten in der Gesundheitswirtschaft geht?

Ege: Für mich ist die wichtigste Erkenntnis aus dem Projekt, dass die Datenteilung häufig am fehlenden Vertrauen scheitert. Ein Datenraum ist dabei ein probates Mittel, um Vertrauen zwischen den Akteuren aufzubauen, da es ihnen selbst obliegt, wie viele Informationen sie unter welchen Bedingungen teilen. Wenn Vertrauen fehlt, entstehen automatisch mehr Probleme: Akteure offenbaren nicht alle notwendigen Informationen. Statt Transparenz zu schaffen, werden Prozesse in Silos verteidigt. Deshalb ist Vertrauen keine Option, sondern die Voraussetzung für den Erfolg von HealthTrack-X. Vertrauen wächst, wenn niemand das Gefühl hat, Kontrolle abzugeben. Deshalb setzen wir auf eine frühe und offene Einbindung aller Beteiligten. Wir entwickeln die Lösungen gemeinsam, Schritt für Schritt. Nur wer das System mitgestalten kann, wird es später auch aktiv nutzen. So entsteht Akzeptanz, weil jeder mitreden kann und weil man sieht, dass Zusammenarbeit wirklich etwas bringt.

Florian: Das Projekt lebt von seiner Offenheit. Viele Partner:innen bringen sich mit großer Bereitschaft ein. Gerade weil wir im vorwettbewerblichen Raum agieren, schaffen wir eine so neutrale Plattform, die nicht durch Konkurrenz geprägt ist, sondern durch geteiltes Wissen. Das „X“ steht für diese Vernetzung: Es geht nicht um den direkten Wettbewerb, sondern um die Grundlagen, von denen alle profitieren, nämlich stabile Lieferketten, weniger Engpässe, weniger Reibungsverluste. Das macht es einfacher, offen zusammenzuarbeiten.

Q: Wie lassen sich die Interessen von Patient:innen und Unternehmen in einem Projekt wie HealthTrack-X miteinander verbinden?

Ege: Heute rufen Patient:innen manchmal mehrere Apotheken an, um ein dringend benötigtes Medikament zu finden. Apotheken rufen Lager an, Ärzt:innen suchen Alternativen. Mit HealthTrack-X wollen wir ein Frühwarnsystem schaffen, das auf Echtzeitdaten basiert. So können solche Situationen vermieden werden. Wenn sich ein Engpass abzeichnet, sind alle Beteiligten informiert und können gegensteuern, bevor es kritisch wird. Für die Patient:innen bedeutet das: weniger Unsicherheit, mehr Versorgungssicherheit. Und das ist nur ein Aspekt - denn alle drei Anwendungsfälle zahlen direkt auf eine verlässlichere Versorgung ein.

Florian: Und für die Unternehmen bedeutet es weniger Abstimmungsaufwand, weniger Reibungsverluste, bessere Planbarkeit und klarere Prozesse. Der Anwendungsfall zur Digitalisierung von Warenbegleitdokumenten erleichtert die Abwicklung. Die automatisierte Lagerbestandsmeldung sorgt für frühzeitige Reaktion auf Engpässe. Und das standardisierte CO₂-Reporting ermöglicht Nachhaltigkeit, ohne zusätzlichen Aufwand für einzelne Unternehmen. Wir reden also von einer Win-win-Situation: Die Standardisierung und Zusammenarbeit ist kein Selbstzweck, sondern bedeutet weniger Aufwand für Patient:innen bei mehr Sicherheit und Effizienz für die gesamte Lieferkette.

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Zusammengefasst zeigt HealthTrack-X, dass Digitalisierung nicht nur bedeutet, Prozesse zu automatisieren. Es geht darum, Vertrauen zu schaffen, Standards zu entwickeln und Silos aufzubrechen. Entscheidend ist, wie wir sie nutzen: Gemeinsam.

Die digitale Transformation der Gesundheitswirtschaft braucht mehr als Software und Server. Sie braucht eine Haltung: Offenheit, Kooperation, langfristiges Denken. Genau dafür steht HealthTrack-X. Das Projekt macht deutlich, dass Digitalisierung ein Werkzeug ist und dass der wahre Hebel in der Art liegt, wie wir zusammenarbeiten.

Das „X“ im Projektnamen steht symbolisch für Verbindung: zwischen Datenpunkten, zwischen Akteur:innen, zwischen Sektoren, zwischen Ideen. Wer heute Teil dieses Projekts wird, gestaltet mit. Nicht nur ein Projekt, sondern die Grundlage für eine resiliente und datengetriebene Gesundheitsinfrastruktur von morgen.

Mehr über HealthTrack-X, die Partner:innen und Möglichkeiten zur Beteiligung finden Sie

[1] https://gaia-x.eu: Ermöglichung vertrauenswürdiger, dezentraler, digitaler Ökosysteme durch gemeinsame De-facto-Standards.

[2] https://www.ibm.com/de-de/think/topics/what-is-a-digital-twin: Ein digitaler Zwilling ist eine virtuelle Repräsentation eines physischen Objekts oder Prozesses. Er wird vor allem eingesetzt, wenn Unternehmen ihre Produkte oder Systeme über den ganzen Lebenszyklus hinweg beobachten, analysieren, simulieren und optimieren möchten.

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