Mehr Innovation wagen statt Wagenburg-Mentalität

Fangen wir mit einem Ratespiel an: Welche Industrie beschäftigt in Deutschland über eine Million Menschen und hat eine Bruttowertschöpfung von circa 81 Milliarden Euro? Ich gebe Ihnen drei Hinweise: Durch die Beschäftigung von zwei Personen in der Forschung und Entwicklung (FuE) dieses Wirtschaftszweiges werden rund drei Arbeitsplätze in der gesamten Volkswirtschaft gesichert. Die Branche reinvestiert 15 Prozent ihrer Bruttowertschöpfung in FuE und ihr Anteil an den gesamten Exporten Deutschlands liegt bei circa acht Prozent.

Nein – hierbei geht es nicht um die Automobilindustrie mit etwa 800.000 direkt Beschäftigten und auch nicht um den Maschinenbau, der sieben Prozent in FuE reinvestiert. Es geht um die industrielle Gesundheitswirtschaft, die dem Krebs und anderen schwerwiegenden Erkrankungen den Kampf angesagt hat und in der Pandemie Tests, Impfstoffe und Therapien in Rekordzeit entwickelt und durch enge Kooperationen mit Ärzten, Zulassungsbehörden, Wissenschaft und Politik die Grundlagen für die Rückkehr zu einem „normalen“ Leben in Freiheit geschaffen hat. Ja, einige Unternehmen haben in der Pandemie Gewinne gemacht. Das ist das Ergebnis jahrelanger Risikoinvestitionen in die mRNA-Technologie, die Biotechnologie, Molekulardiagnostik, Automatisierung in der Medizintechnik und Impfstoffherstellung. Unternehmerisches Risiko heißt in diesem Fall aber auch, dass von den über 360 Impfstoffkandidaten weltweit nur wenige zugelassen wurden. Davon sind circa fünf kommerziell erfolgreich. Eine Ausnahmesituation? Nein, es ist unser Geschäftsmodell basierend auf komplexer klinischer Forschung und Entwicklung. Die, die es schaffen, müssen höhere Gewinne einfahren, sonst geht kein Investor dieses Risiko ein.

Welche Rahmenbedingungen es für ein nachhaltiges Gesundheitssystem braucht

Die aktuellen Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfordern eine Strukturreform auf der Einnahmen- und Ausgabenseite und keine innovationsfeindlichen Maßnahmen und kurzsichtigen Kosteneinsparungen. Im Gegenteil, wir müssen mehr Innovation wagen – damit erreichen wir mehr systemische Effizienz, eine bessere Patientenversorgung und stärken die vielen smarten Unternehmen von Start-ups bis zu großen Konzernen, welche durch ihre Bruttowertschöpfung in Deutschland wiederum die sozialen Sicherungssysteme stabilisieren.

Wir sollten aus der Vergangenheit lernen: Als 2010 der Zwangsrabatt von 16 Prozent auf innovative Arzneimittel eingeführt wurde, gingen die Investitionen in den darauf folgenden Jahren in Deutschland kumulativ um mehr als zwei Milliarden Euro zurück. Das waren unter anderem die Jahre, in denen international in den Ausbau von zum Beispiel Zell- und Gentherapien investiert wurde. Deutschland hat damals den Anschluss verpasst und ist heute abgehängt. So finden 50 Prozent der Gentherapie-Studien in den USA und 40 Prozent in China statt – auf Deutschland entfallen gerade mal vier Prozent.

Eine persönliche Reflexion als Vorstand eines Unternehmens

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt, Deutschland zu einem international führenden Biotechnologie-Standort aufzustellen. Wir diskutieren auf Arbeits- und Leitungsebene seit einiger Zeit in den Ministerien sehr konstruktiv über qualitätsorientierte Ansätze und wie wir die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranbringen können. Ich schätze den Dialog und Gestaltungswillen meiner Ansprechpartner außerordentlich. Strukturreformen, qualitätsorientierte Ansätze und die datenbasierte Medizin sollten auch weiterhin im Fokus stehen.

So wie von mir als Unternehmer erwartet wird, umsichtig und langfristig zu handeln; so erwarte ich, dass auch auf politischer Ebene eine Vision für die Zukunft unseres Gesundheitswesens entwickelt wird, die bestenfalls dem System und der Volkswirtschaft nicht durch kurzsichtige Maßnahmen schadet und sich vor allem alle Beteiligten auf Augenhöhe mit Partnern und Experten austauschen.

Der Ruf nach Dialog und echten Strukturreformen

Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten. Auch die Pharmaindustrie lebt von einem gut finanzierten Solidarsystem. Wir wünschen uns deshalb eine gemeinsame, zukunftsgerichtete Weiterentwicklung des Systems. Hierfür empfiehlt sich zum Beispiel ein Dialog mit den Ministerien für Gesundheit, Wirtschaft, Forschung und der Finanzen. Um die strukturellen Finanzprobleme der GKV zu beheben, sind zunächst die Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag konsequent umzusetzen. Dazu zählen die Finanzierung der ALG-II-Beiträge zur GKV aus Steuermitteln. Weitere Optionen zur Behebung der GKV-Strukturprobleme sind: eine konsequente Weiterentwicklung digitaler Strukturen, eine nachhaltige Reform im Krankenhausbereich und eine Qualitätsoffensive auf allen Ebenen.

Politik lebt vom Diskurs und den sollten wir dringend angehen!

Autor
Prof. Hagen Pfundner
Vorstand

Prof. Hagen Pfundner ist Vorstand der Roche Pharma AG und Mitglied des Präsidiums des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller sowie stellvertretender Ausschussvorsitzender „Industrielle Gesundheitswirtschaft“ beim Bundesverband der Deutschen Industrie.

Dieser Standpunkt ist am 14.07.2022  im

Tagesspiegel Backgrounder Gesundheit & E-Health erschienen.

Roche-Vorstand Hagen Pfundner setzt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für eine nachhaltige Strukturreform auf der Einnahmen- und Ausgabenseite ein und kritisiert innovationsfeindliche Maßnahmen und kurzsichtige Kosteneinsparungen. Sein Fazit: Wir müssen mehr Innovation wagen!

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