Jeden Tag wird weltweit eine gigantische Menge an Gesundheitsdaten generiert - von Körpermesswerten über DNA-Sequenzen bis hin zu radiologischen Aufnahmen. Wie können diese Informationen, die immer noch viel zu häufig in Silos abgespeichert sind, besser genutzt und integriert werden?

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen bietet einen gigantischen Werkzeugkasten voller Tools und Methoden, um datenbasierte Entscheidungen zu ermöglichen. Dazu gehören auch sogenannte "Gesundheits-Apps", die sich in der deutschen Versorgungslandschaft zunehmend etablieren. Gleichwohl gibt es nach wie vor Ängste und Unsicherheiten, was die Gesundheits-Apps leisten können und ob sie tatsächlich einen Nutzen haben - sowohl innerhalb der Ärzteschaft als auch bei den Patient:innen und Angehörigen.

Wie verändern digitale Tools den medizinischen Alltag schon heute? Und wie kann Deutschland das Potenzial datengestützter Medizin künftig besser erschließen? Darüber haben wir mit zwei Pionier:innen gesprochen: Gloria Seibert und Benjamin Friedrich, die 2016 das Unternehmen Temedica gründeten. Temedica entwickelt digitale Therapiebegleiter in Form von Gesundheits-Apps, darunter auch die , die in Kooperation mit Roche entstanden ist.

Liebe Gloria, lieber Benjamin - wie seid Ihr als junge Gründer:innen in den Digital-Health-Bereich gekommen?

Gloria: Als wir 2016 mit Temedica starteten, war der Begriff "Digital Health" noch weitgehend unbekannt. Wir fanden das Thema jedoch sehr faszinierend, weil wir früh erkannt haben, dass der Gesundheitssektor enorm von den Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren kann. Außerdem war ich schon früh mit einem MS-Fall in meiner Familie konfrontiert, was mein Interesse zusätzlich verstärkt hat.

Benjamin: Schon als Kind wollte ich Arzt werden. Nach meiner Promotion und einigen Jahren in der Klinik habe ich aber festgestellt, dass man als praktizierender Arzt nur einer begrenzten Zahl an Patient:innen helfen kann. Ich wollte aber das System als Ganzes verändern und hatte zugleich die tiefe Überzeugung, dass Digitalisierung ein immenses Potenzial für das Gesundheitssystem birgt. Mit Gloria und unserem Team arbeiten wir gemeinsam jeden Tag daran, Digitalisierung im Healthcare-Sektor voranzutreiben und die Zukunft der personalisierten Medizin mitzugestalten.

Könnt Ihr uns bitte erklären, welchen Mehrwert digitale Gesundheitslösungen bieten?

Benjamin: Digitale Gesundheitslösungen wie die Brisa® App sind in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen können sie durch das kontinuierliche Erfassen von Patientendaten neue Erkenntnisse über Erkrankungen liefern und somit langfristig den Weg zu einer personalisierten Medizin ebnen. Leider herrscht nach wie vor ein erhebliches Informationsdefizit über die Faktoren, die beeinflussen, wie einzelne Patient:innen auf Therapien reagieren. Dabei können beispielsweise die mit Gesundheits-Apps erhobenen Daten uns helfen, die Versorgungsrealität genauer abzubilden und die Evidenz aus randomisiert-kontrollierten Studien sinnvoll zu ergänzen.

Gloria: Zum anderen können digitale Instrumente auch Betroffene beim Krankheitsmanagement unterstützen. Als Patient ist man die meisten Tage im Jahr auf sich allein gestellt. Dabei besteht eigentlich ein immenser Informationsbedarf - vor allem bei denjenigen, die mit chronischen Krankheiten leben. Eine Gesundheits-App ist praktischerweise immer und überall verfügbar und hilft Patient:innen, medizinische Zusammenhänge besser zu verstehen und richtig einzuordnen. Sie kann aber eine ärztliche Beratung nicht ersetzen – vielmehr gilt sie als Ergänzung und gibt Unterstützung, wenn der Arzt nicht zur Stelle ist.

Was macht medizinische Apps aus? Wie unterscheiden sie sich von Wellness-Apps?

Benjamin: Im Kontext von Gesundheits-Apps müssen wir unterscheiden zwischen zertifizierten Medizin-Apps, die über eine CE-Kennzeichnung verfügen und Wellness- oder Lifestyle-Apps, die keinen medizinischen Zweck erfüllen und deshalb keiner regulatorischen Kontrolle unterliegen. Bei Brisa® handelt es sich beispielsweise um eine zertifizierte Medizin-App, die als ein qualifiziertes Medizinprodukt nicht nur eine Konformitätsprüfung absolviert hat, sondern auch bestimmten technisch-administrativen Voraussetzungen genügt. Medizin-Apps gibt es in verschiedensten Ausprägungen: Manche Apps unterstützen Patient:innen beispielsweise bei der Einhaltung des persönlichen Medikationsplans und sorgen damit für eine bessere Bindung an die ärztlich verordnete Therapie (adherence to therapy). Andere, wie etwa neotivCare® oder die Brisa® App, ermöglichen den Betroffenen die Verfolgung sowie Visualisierung von individuellen Krankheitssymptomen anhand wissenschaftlich validierter Tests.

Gloria: Ich glaube, dass digitale Gesundheitslösungen wichtige Bausteine sind, um die Lücken im Versorgungssystem zu füllen. Sie stärken die Patient:innen. Durch eine konsequente Nutzung von Gesundheits-Apps können sie sich auch aktiv in den Behandlungsprozess einbringen und als gleichberechtigte Partner:innen an der eigenen Versorgung teilnehmen. “Putting the patient in the driver’s seat” - wir brauchen einen Wandel hin zu einer patientenzentrierten und personalisierten Gesundheitsversorgung und Gesundheits-Apps sind geeignete Instrumente, um dies voranzutreiben.

Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen sind bei der Entwicklung von Gesundheits-Apps zu beachten?

Benjamin: Hier müssen wir wieder eine Unterscheidung vornehmen. Die Medizin-Apps, wie vorhin erwähnt, tragen eine europaweit gültige CE-Kennzeichnung für medizinische Produkte und müssen ein aufwändiges Verfahren durchlaufen, bevor sie auf den Markt kommen. Für den App-Hersteller besteht zusätzlich die Möglichkeit, eine zertifizierte Medizin-App als erstattungsfähige DiGA (digitale Gesundheitsanwendung) registrieren zu lassen. Um eine DiGA-Zulassung zu erhalten, muss er nachweisen, dass sein Produkt insgesamt einen positiven Versorgungseffekt aufweist. Dies wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Rahmen eines separaten Nutzenbewertungsverfahrens sorgfältig geprüft.

Gloria: Die Nutzenbewertung der DiGAs orientiert sich stark am AMNOG-Verfahren für innovative Arzneimittel. Das heißt, dass der App-Hersteller verpflichtet ist, die Wirksamkeit des Produkts auf Basis vordefinierter Endpunkte zu untersuchen und Kausalzusammenhänge zu belegen. In meinen Augen ist es richtig, dass die Hürden für die Registrierung von Apps als Medizinprodukte hoch sind. Eine klare Trennung zwischen Lifestyle- und Medizin-Apps ist geboten und gerechtfertigt - für letztere gelten wesentlich höhere Standards.

Benjamin: Ich denke, der wichtigste Faktor bei der Entwicklung von Apps, insbesondere im Bereich der Gesundheit, ist der Datenschutz. Als App-Entwickler müssen wir uns stets bewusst sein, dass wir mit hochsensiblen Daten operieren. Die DSGVO, die selbstverständlich auch im Bereich digitaler Gesundheitslösungen Anwendung findet, schafft den adäquaten Rahmen für die Handhabung personenbezogener Gesundheitsdaten und sorgt so für mehr Transparenz, Sicherheit und Klarheit.

Gloria: Ich bin ganz bei Benjamin. Die DSGVO wird häufig (und fälschlicherweise) als Hemmschuh für Innovation angesehen. Dem ist aber nicht so. Ich kann ein Beispiel aus unserem Arbeitsalltag anführen: Bei der Brisa® App müssen die Nutzer:innen, gemäß der DSGVO, der Speicherung und Weiterverarbeitung ihrer Daten explizit zustimmen. Da verzeichnen wir eine Zustimmungsquote von über 70 Prozent. In anderen Worten - die Bereitschaft, Gesundheitsdaten zu teilen, ist vorhanden. Man muss die Nutzer:innen aber abholen und ausführlich informieren.

Wie schätzt Ihr die Zukunft der digitalen Healthcare in Deutschland ein?

Gloria: Was den App-Markt in Deutschland anbelangt, glaube ich, dass das bislang bewährte DiGA-Modell nicht verschwinden wird. Trotzdem gehe ich davon aus, dass sich bestimmte Verfahrensmodalitäten - wie etwa die Bepreisung und Zertifizierungsprozesse - noch verändern. Ich glaube auch, dass sich in Zukunft weitere digitale Ökosysteme ausbilden werden, die auf einem übergreifenden Vernetzungsansatz fußen, um Synergien zwischen unterschiedlichen Stakeholdern im Gesundheitswesen noch effizienter zu nutzen. Hier waren wir mit unserem Ansatz bei Temedica unter den Ersten, aber dieses Feld wird definitiv noch größer wachsen.

Benjamin: Deutschland steckt in puncto digitale Gesundheit leider noch in den Kinderschuhen. Es gibt einige Weltregionen, wie etwa das Baltikum oder Israel, wo digitale Lösungen im Gesundheitswesen derzeit einen regelrechten Boom erleben und ihre Vorteile sichtbar zu Tage treten. Die Zukunft der Medizin ist digital; darüber herrscht Konsens. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet daher: Wie schnell wollen wir das Potenzial der Digitalisierung erschließen?

Was ist Real World Evidence und wie kann sie die Gesundheitsversorgung verbessern?

Benjamin: Real World Evidence bezieht sich auf alle medizinischen Erkenntnisse, die jenseits von klassischen klinischen Studien gewonnen werden - sei es durch die Analyse von Registerdaten, Patient:innenakten oder per App ermittelten Daten. Wir sind mittlerweile - auch dank der Digitalisierung - imstande, eine Riesenmenge an Daten aus dem Versorgungs- und Klinikalltag zu analysieren und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten, wie unterschiedliche Therapieansätze bei jeweiligen Patient:innenegruppen abschneiden. Die Zusammenführung, Vereinheitlichung und letztendlich Auswertung dieser Daten ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur personalisierten Medizin.

Gloria: Bei Temedica verknüpfen wir unterschiedlichste Datenquellen miteinander, um neue Erkenntnisse über Krankheiten zu gewinnen. Diese teilen wir dann mit forschenden Ärzt:innen, Kliniken und auch anderen Health Care Professionals (HCPs). Auch die Brisa® App wird auf diese Weise fortlaufend weiterentwickelt.

Benjamin: Vor kurzem haben wir auf dem europäischen MS-Kongress ECTRIMS gemeinsam mit Prof. Ziemssen vom Universitätsklinikum Dresden ein Poster vorgestellt, bei dem Daten unter anderem aus der Brisa® App als Grundlage herangezogen wurden. Wir wussten schon, dass in der MS-Literatur Krankheitssymptome oft isoliert betrachtet werden. Unsere Auswertung der Real-World-Daten ergab aber, dass bestimmte MS-Symptome signifikant häufiger gemeinsam - in Form von Symptomclustern - auftreten. Davon ausgehend haben wir im zweiten Schritt gefragt, ob es Subtypen von MS gibt und diese möglicherweise andere Therapieformen benötigen. Solche Fragen lassen sich nur mit vielen, vielen Daten beantworten.

Gloria: Ich vermute, dass durch Real-World-Daten die Medizin einen Quantensprung erleben wird. Eine stark datengetriebene Medizin verspricht nicht nur zielgerichtete, individuell angepasste Therapien, sondern auch eine effizientere Diagnosestellung bei Krankheiten. Man darf gespannt sein, mit welcher Dynamik die Digitalisierung das Gesundheitswesen in den nächsten Jahren verändert.

Könnt Ihr für uns die Entstehungsgeschichte der Brisa® App schildern?

Gloria: Mit Roche gab es an vielen Stellen Touchpoints - vor allem in Bezug auf das Patient:innen-zentrierte Verständnis der Medizin. Auch die agile Unternehmenskultur von Roche ist für uns von großer Bedeutung. Aus diesem Dialog ist die Brisa® App entstanden - ein Projekt, bei dem wir die Stärken beider Partner zum größtmöglichen Nutzen vereint haben. Die Brisa® App ist auch ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche Kooperation zwischen zwei auf den ersten Blick erst einmal sehr heterogenen Profilen - einem etablierten Life-Sciences-Unternehmen und einem schnell wachsenden Digital-Health-Unternehmen.

Benjamin: Die Bedürfnisse der Patient:innen in den Mittelpunkt zu stellen ist der Ansatz, der von beiden Unternehmen geteilt wird. Bevor wir uns daran machen, überhaupt die erste Zeile Code zu schreiben, sprechen wir immer mit Betroffenen und involvieren sie aktiv in die Entwicklung. Jedes Konzept und jeder Inhalt wird gemeinsam mit der Patient:innen-Community reflektiert. Dabei beziehen wir ein breites und vielfältiges Spektrum an Repräsentant:innen ein, um unsere Zielgruppe realistisch abzubilden. Auch bei der Entwicklung der Brisa® App kam dieser Ansatz erfolgreich zum Tragen.

Gloria: Ein digitales Produkt ist aber nie fertig. Wir pflegen nach wie vor einen engen Austausch mit der Community, um die Brisa® App iterativ weiterzuentwickeln und den Bedürfnissen der Nutzer:innen anzupassen.

Wie sind die Reaktionen der HCPs auf digitale Lösungen?

Benjamin: Die Reaktionen der Ärzt:innen waren am Anfang unterschiedlich. Es gab teilweise große Berührungsängste und Unsicherheiten allgemein im Umgang mit digitalen Lösungen. Inzwischen sind sie aufgeschlossener, solange bestimmte Regeln eingehalten werden, wie zum Beispiel Datenschutz. Wenn meine Kolleg:innen sehen, dass Patient:innen von digitalen Lösungen profitieren, wächst ihre Überzeugung zunehmend. Es wird jedoch noch Zeit brauchen, bis sie an die neuen Technologien vollständig gewöhnt sind.

Gloria: Die Ärzt:innen beobachten auch, dass die Patient:innen einen großen Mehrwert von digitalen Gesundheitslösungen haben und setzen diese zunehmend in der Behandlung ein. Ich glaube, dass wir in ein paar Jahren an einem ganz anderen Punkt stehen werden als heute. Es gilt, weiterhin Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit zu leisten, um die Angst vor digitalen Tools abzubauen.

Autor
Ege Hüsemoglu
Volontär

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