Stellen wir uns zwei Frauen vor: Maria und Sophie. Sie beide erhalten dieselbe erschreckende Diagnose: Brustkrebs – doch dazwischen liegt ein halbes Jahrhundert medizinischer Forschung und Entwicklung.
Maria ertastet Mitte der 1970er Jahre einen Knoten in ihrer Brust. Nun liegt sie im Krankenhaus, eine Gewebeprobe wird entnommen und sofort unter dem Mikroskop untersucht. Der Verdacht bestätigt sich, die Operation wird unmittelbar fortgesetzt. Als Maria Stunden später aus der Narkose aufwacht, erfährt sie, dass ihre Brust und die Lymphknoten der Achselhöhle komplett entfernt wurden. Maria hat eine radikale Mastektomie nach Halsted hinter sich - ein chirurgisches Verfahren, das bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Goldstandard galt und die Brustkrebstherapie für rund 100 Jahre prägte. Es ist der Versuch, mit dem Skalpell gegen den Tumor zu gewinnen. Radikal, körperlich belastend, seelisch schwer zu verkraften - und ohne Kenntnis der biologischen Eigenschaften des Tumors.
Rund 50 Jahre später erlebt Sophie eine ganz andere Medizin. Ein verdächtiger Befund bei ihrer Screening-Mammografie führt zu einer Gewebeprobe, die mittels modernster Diagnostik genau charakterisiert wird. Auch ihr Befund bestätigt leider den Verdacht, doch ihr Tumor bekommt einen präzisen Steckbrief: Hormonrezeptor-negatives HER2-positives Mammakarzinom. Ihr interdisziplinäres Behandlungsteam – bestehend aus Gynäkologen, Onkologen, Radiologen und Pathologen – entwirft gemeinsam einen maßgeschneiderten Plan: Sophie erhält noch vor der Operation eine Antikörpertherapie, die sich gezielt gegen den identifizierten Treiber des Tumors richtet: Die Überexpression des HER2-Rezeptors. Als sie Wochen später operiert wird, ist der Tumor im Gewebe nicht mehr nachweisbar. Mit anschließender Fortsetzung der Antikörpertherapie stehen ihre Chancen gut, wieder gesund zu werden.
Der Kontrast zwischen Maria und Sophie zeigt, wie weit Forschung, Entwicklung und Innovationen die Behandlung von Brustkrebs in den vergangenen fünf Jahrzehnten vorangebracht haben: Vom radikalen anatomischen Feldzug mit dem Skalpell zu hochpräzisen, personalisierten Behandlungsstrategien mit zielgerichteten und personalisierten Arzneimitteln. Der Fortschritt in der Behandlung von Frauen mit Brustkrebs ist zweifellos eine der großen Erfolgsgeschichten der modernen Onkologie - und noch lange nicht abgeschlossen. Davon ist zumindest Claus Lattrich überzeugt, unser Interview-Gast für die heutige Ausgabe von Snackable Science. Und er kennt sich aus - bei Roche in Basel arbeitet er als Global Medical Science Leader im Bereich Gynäkologie.
Q: Lieber Claus, in der Einleitung skizzieren wir die Fortschritte in der Behandlung von Brustkrebs anhand von zwei fiktiven Beispielen. Was waren die großen Wendepunkte, die uns von einer radikalen, primär chirurgischen Therapie zu unseren heutigen hochpräzisen Behandlungsstrategien geführt haben?
A: Wenn wir uns die enorme Entwicklung in der Onkologie und speziell auch im Bereich Brustkrebs vor Augen führen, geht es weniger um einzelne Heureka-Momente als vielmehr um das Ineinandergreifen kontinuierlicher Fortschritte ganz unterschiedlicher Disziplinen der Medizin. Das hat beispielsweise in der Chirurgie zum Prinzip “weniger ist mehr” geführt: Heute wissen wir, dass eine brusterhaltende Operation zusammen mit einer Strahlentherapie für viele Frauen genauso sicher ist wie die radikale Entfernung der Brust. Auch Verfahren wie die Wächterlymphknoten-Biopsie haben die Lebensqualität unzähliger Frauen verbessert, da schon lange nicht mehr pauschal alle Achsellymphknoten entnommen werden. Vor allem aber verstehen wir die Erkrankung Brustkrebs heute viel besser. Die medizinische Forschung hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte gelernt, dass Brustkrebs keine einheitliche Erkrankung, sondern ein Überbegriff für eine Vielzahl von Erkrankungen mit ganz unterschiedlichen biologischen Treibern ist. Ein Meilenstein war hier beispielsweise in den 1970er Jahren die Erkenntnis, dass das Wachstum mancher Tumore durch körpereigene Hormone angefeuert wird. Plötzlich hatte man einen biologischen Schalter gefunden, den man mit Antihormontherapien gezielt umlegen konnte. Das war letztlich der erste Schritt weg vom Gießkannenprinzip in Richtung individueller Therapien.
Q: Eine Entwicklung, die mit der Entschlüsselung genetischer Treiber für das Tumorwachstum fortgesetzt wurde …
A: Absolut, die fundamentale Erkenntnis, dass die Ursachen für die Entstehung und das Fortschreiten von Krebs in unseren Genen liegen, war der zentrale Startschuss für die personalisierte Medizin, wie sie Sophie im Beispiel erlebt. Richtungsweisend war hier zweifellos die Identifikation der Rolle des HER2-Gens: In ihren Arbeiten konnten Forscher wie Dennis Slamon und Axel Ullrich in den 1980er Jahren zeigen, dass bei etwa 20% aller Brustkrebspatientinnen eine Verstärkung der Aktivität des HER2-Gens zu einer extremen Überproduktion des HER2-Rezeptors auf der Oberfläche der Tumorzellen führt und so ein besonders aggressives und unkontrolliertes Tumorwachstum fördert. Damit wurde nicht nur erstmals der direkte Zusammenhang einer genetischen Veränderung mit einer besonders aggressiven Form von Brustkrebs entschlüsselt, sondern gleichzeitig auch der Weg zur personalisierten Medizin geebnet.
Q: Roche und Genentech haben auf Basis dieser Erkenntnisse die erste Antikörpertherapie bei HER2-positivem Brustkrebs eingeführt. Welchen Stellenwert hatte diese Entwicklung?
A: Der Stellenwert ist enorm: Mit dem ersten gegen HER2-gerichteten Antikörper wurde das Prinzip der personalisierten Medizin in die Behandlung von Brustkrebs und die Onkologie insgesamt eingeführt – das war revolutionär und ein absoluter Game Changer für die Prognose der Frauen. Gleichzeitig lehrt uns das Beispiel HER2-positiver Brustkrebs aber auch Grundsätzliches über Innovationen in der Medizin: Es zeigt uns, dass Innovationen nicht vom Himmel fallen, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und Entwicklung sind. Von der Entschlüsselung des HER2-Rezeptors in den 1980er Jahren dauerte es noch einmal bis zur Jahrtausendwende, bis die erste Therapie bei den Patientinnen ankam. Das Beispiel zeigt uns aber auch, wie Innovationen den Weg für neue Fortschritte ebnen: So haben neue Erkenntnisse später zur Einführung eines weiteren Antikörpers geführt, der an anderer Stelle angreift und so die Wirkung verstärkt. Auch die Antikörpertechnologie selbst wurde weiterentwickelt, zum Beispiel durch Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, die den Antikörper wie ein trojanisches Pferd nutzen, um hochwirksame Zellgifte gezielt in Krebszellen einzuschleusen und so von innen heraus zu zerstören. Diese Fortschritte haben die Prognose für Frauen mit HER2-positivem Brustkrebs Schritt für Schritt verbessert - mit drastisch verlängerten Überlebenszeiten und höheren Chancen auf Heilung.
Q: Diese Fortschritte gelten für Frauen mit HER2-positivem Brustkrebs - wie sieht es bei anderen Formen der Erkrankung aus?
A: Die gute Nachricht ist, dass sich die Prognose für Frauen mit Brustkrebs in den letzten Jahrzehnten insgesamt deutlich verbessert hat; und moderne Arzneimittel - ob nun personalisierte Antikörper und Small Molecules oder Krebsimmuntherapien - haben hier einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet. Außer Frage steht aber auch: Wir dürfen uns nicht ausruhen - noch immer sterben allein in Deutschland jedes Jahr fast 20.000 Frauen an Brustkrebs. Diese Zahl führt uns deutlich vor Augen, wie hoch der Bedarf an medizinischen Fortschritten bei Brustkrebs nach wie vor ist - und sie ist auch für unsere Forschung bei Roche ein täglicher Ansporn, nicht nachzulassen und die Grenzen des Möglichen mit Wissenschaft immer weiter zu verschieben.
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Q: Wo liegen denn aktuelle Schwerpunkte der Brustkrebsforschung bei Roche?
A: Innerhalb unserer onkologischen Forschung und Entwicklung nimmt das Mammakarzinom eine zentrale Rolle ein - und wir forschen weiter intensiv daran, die molekularen Treiber der Erkrankung besser zu verstehen. Ein Bereich, auf den wir uns zuletzt verstärkt konzentriert haben, sind Patientinnen mit Hormonrezeptor-positiven Tumoren, die aber keine Überexpression des HER2-Rezeptors aufweisen. Diese Patientinnen erhalten in der Regel eine Antihormontherapie, wobei ein Teil der Frauen mit der Zeit Resistenzen gegen die Behandlung entwickelt. Verantwortlich für diese Resistenzen kann unter anderem eine Mutation im PIK3CA-Gen sein, die die Wirksamkeit der Antihormontherapie untergräbt. Für diese Patientinnen haben wir zuletzt ein Small Molecule entwickelt, das in das Zellinnere eindringt und den für die Therapieresistenz verantwortlichen Signalweg gezielt unterbricht.
In fortgeschrittener Forschung und Entwicklung befindet sich zudem ein oraler SERD, ein Selektiver Östrogenrezeptor-Degrader. Während traditionelle Antihormontherapien die Östrogenrezeptoren oft nur blockieren, sind SERDs darauf ausgelegt, den Rezeptor in der Krebszelle vollständig zu eliminieren. Auch hier werden wir in Kürze positive Forschungsergebnisse präsentieren, die potentielle neue Behandlungsmethoden eröffnen.
Letztlich treiben wir die Personalisierung der Brustkrebstherapie auch durch immer präzisere Diagnostik voran. Wir wissen heute, dass der HER2-Status nicht einfach “positiv” oder “negativ” ist, sondern ein breites Spektrum abdeckt. Mit hochpräzisen Diagnostika können wir heute auch Tumore mit sehr geringen HER2-Expressionen identifizieren, woraus sich auch für diese Patientinnen möglicherweise personalisierte Behandlungsmöglichkeiten ergeben.
Q: Blicken wir zum Abschluss noch einmal auf unsere beiden Patientinnen - was bedeuten diese Fortschritte für eine Patientin, die heute mit der Diagnose “Brustkrebs” konfrontiert wird?
A: Bei allen Fortschritten, über die wir gesprochen haben: Brustkrebs ist weiterhin eine schwere und lebensbedrohliche Erkrankung und die Diagnose ist und bleibt für jede betroffene Frau und ihre Angehörigen ein massiver Schock. Was sich aber dank intensiver Forschung und Entwicklung sowie den enormen Fortschritten und Innovationen verändert hat: Eine Frau wie Sophie, die heute mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert wird, kann sicher sein, dass ihre Behandlung kein Zufallsprodukt ist, sondern eine präzise, wissenschaftlich fundierte Strategie, die auf die Biologie ihrer Erkrankung zugeschnitten ist - im Idealfall mit Therapien, die nicht nur gegen eine Erkrankung vorgehen, sondern gezielt ihre Ursachen bekämpfen. Und genau das ist unser Ziel bei Roche: Das Wissen der Spitzenforschung von heute in die therapeutischen Standards von morgen übersetzen - damit wir in Zukunft für noch mehr Patientinnen mit Brustkrebs die Sicherheit geben können, genau die richtige therapeutische Antwort zu haben.
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