Buntes Treiben auf einer Tokioter Kreuzung: Fünf Zabrastreifen, kreuz und quer durcheinander strömende Passanten, Leuchtreklame, hupende Fahrzeuge. Was hat dieses Szenario mit Onkologie zu tun? Die exakt aufeinander abgestimmten Ampelanlagen haben Ähnlichkeit mit den komplexen Regulationsmechanismen in unseren Zellen.

Von einem hausgroßen Flachbildschirm dröhnt eine Frauenstimme. Ihre Worte vermischen sich mit lautem J-Pop, den Motorengeräuschen der zahllosen Autos, Busse und Motorräder und dem Stimmengewirr der abertausenden Menschen. Charlotte steht mit ihrem durchsichtigen Regenschirm und ihrer grauen Jacke an einer Kreuzung im Tokioter Stadtteil Shibuya. Bunte Schilder und Leuchtreklame, wohin man blickt. Eine 20 Meter große Projektion eines Dinosauriers schreitet über die Fassade eines der hohen Geschäftsgebäude. Dann schaltet die Fußgängerampel auf Grün – und alles setzt sich in Bewegung.

Die Szene aus „Lost in Translation“ machte Shibuya Ekimae Kösaten auch über Japan hinaus berühmt. Die Kreuzung mit den fünf gigantischen Zebrastreifen ist Sinnbild für das geschäftige Treiben in der bevölkerungsreichsten Metropole der Welt. Etwa 3.000 Menschen überqueren sie bei jeder Ampelphase – bis zu 390.000 pro Tag. Das macht sie zur belebtesten Kreuzung der Welt.

Auf den ersten Blick erscheint es selbstverständlich, dass es nicht ständig zu Staus oder Unfällen kommt. Bei genauer Betrachtung ist es aber die Folge eines komplexen Zusammenspiels vieler Faktoren: Ampeln, Zebrastreifen, Verkehrsregeln und die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen sorgen für den reibungslosen Ablauf. Fällt ein Element aus – funktioniert etwa die Ampel nicht – kommt es zu Unfällen und einem Verkehrskollaps. Das System bricht zusammen.

Auch in unseren Zellen gibt es so etwas wie Kreuzungen: Hier kreuzen sich Stoffwechselwege. In jeder Sekunde finden in den Zellen ungezählte, hochkomplexe chemische Reaktionen statt. Jede für sich speziell, bauen sie doch aufeinander auf, sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Auch hier gibt es – im übertragenen Sinn – Regeln, Schranken, Motoren und Bremsen: Die Regulation unserer Gene oder Enzyme sorgt dafür, dass immer nur die molekularen Schalter aktiv sind und die Reaktionen ablaufen, die im Moment gebraucht werden. So verfügen zum Beispiel die Zellen unserer Bauchspeicheldrüse und in der Netzhaut unseres Auges über die gleiche genetische Information, unterscheiden sich aber dennoch erheblich voneinander: Die eine Zelle produziert Insulin, die andere ist dafür verantwortlich, dass wir sehen können.

Was geschehen kann, wenn diese Regulation versagt, zeigt sich auf katastrophale Weise beim Blick auf die Kontrolle von Zellteilung und -wachstum: Die meisten unserer Körperzellen teilen sich nur unter bestimmten Voraussetzungen oder gar nicht mehr. Die für die Zellteilung verantwortlichen Gene sind in diesen Zellen ausgeschaltet – die Ampel steht auf Rot. Fallen die Kontrollmechanismen aber aus und stehen die Ampeln immer auf Grün – dafür ist meist ein Zusammenspiel mehrerer genetischer Mutationen erforderlich – kann es zu einem unkontrollierten Wachstum der Zellen kommen. Krebs entsteht.

Die Mutationen, die zu diesem Kontrollverlust fuhren, hat die Krebsforschung schon seit längerem im Fokus. So wurden in den vergangenen Jahren immer mehr genetische und molekulare Ursachen entdeckt, die eine Rolle in der Krebsentstehung spielen. Ein Blick auf Lungenkrebs zeigt, wie diese heute als Ansatzpunkt für neue, zielgerichtete Therapien dienen können.1 Der Tumor wird dafür auf bekannte untersucht, die der Entstehung von Lungenkrebs zugrunde liegen. Darauf wählt man eine Therapie, die genau diese genetischen Eigenschaften des Tumors als Angriffspunkt nutzt.2

Eine dieser genetischen Veränderungen ist die sogenannte ALK-Translokation. Ein spezielles Enzym, die Anaplastische Lymphom-Kinase (ALK), ist im gesunden Lungengewebe normalerweise inaktiv. In seltenen Fällen kommt es aber dazu, dass sich einzelne Segmente des Gens mit Abschnitten eines anderen Gens neu aneinander anlagern. Aus diesem neu entstandenen Gen entsteht ein sogenanntes ALK-Fusionsprotein, das jetzt dauerhaft aktiv ist. In etwa wie ein Kurzschluss, der die Ampeln der Kreuzung kontinuierlich auf Grün stellt. Die Zellen beginnen dadurch unkontrolliert zu wuchern.

Mit modernen Medikamenten ist es heute möglich, das ALK-Fusionsprotein zu inaktivieren und das Tumorwachstum zu stoppen oder zu verlangsamen.3 Mehrere dieser gegen verschiedene Schlüsselmutationen wurden in den letzten Jahren entwickelt.2 Sie sind zugeschnitten auf krankhaft veränderte Proteine, die unterschiedliche Signalwege in den Zellen beeinflussen und letztlich den Tumor wachsen lassen. Ein weiterer Ansatz besteht darin, Tumorzellen für das Immunsystem „sichtbar“ zu machen. Damit kann das körpereigene Immunsystem die Krebszellen als solche erkennen und selbst zerstören.

Ziel ist es, bei jedem Tumor der Lunge einen molekularen Test durchzuführen, um den Patient:innen direkt von Anfang an eine zielgerichtete Therapie mit der größten Aussicht auf Erfolg zu ermöglichen.

Auch bei vielen anderen Krebserkrankungen ist das mittlerweile gängige Praxis. Zunehmend wird weniger nach dem Ursprung des Tumors unterschieden, z. B. Brustkrebs oder Lungenkrebs, sondern nach dessen genetischen Eigenschaften. Obwohl es sich um verschiedene Tumorarten handelt, können Brust- und Lungenkrebs die gleiche Mutation aufweisen und somit beide auf die gleiche zielgerichtete Therapie ansprechen. Wenn andererseits zum Beispiel Lungenkrebspatient:innen eine andere Mutation haben, würden diese von dieser Therapie nicht profitieren. Mit steigendem Wissen über die Entstehung von Krebs wird sich die Therapie in Zukunft weiter personalisieren – womöglich bis hin zu einer Therapie, die auf das genetische Profil jeder:s einzelne:n Patient:in individuell zugeschnitten ist.

Schon heute ermöglichen gezielte Therapien Überlebensraten, die bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen bis vor Kurzem kaum denkbar waren. Lag die mediane Überlebenszeit bei fortgeschrittenem Lungenkrebs mit multiplen Metastasen vor wenigen Jahren noch bei 8-12 Monaten,2 beträgt sie bei Patient:innen mit bestimmten Mutationen, darunter ALK-Translokationen, inzwischen mehrere Jahre.2

Dazu beigetragen hat unter anderem ein Unternehmen, dass nur unweit der Shibuya-Kreuzung seinen Firmensitz hat: Chugai Pharmaceuticals wurde 1925 in Tokio gegründet und widmet sich heute unter anderem der Erforschung innovativer Krebsmedikamente. Seit der Fusion mit Roche Nippon 2002 ist Chugai Teil der Roche Gruppe. Auch in Zukunft wird sich Roche im Bereich Onkologie auf die Erforschung der Signalwege von Krebserkrankungen fokussieren, um mit modernsten Technologien immer effektivere Krebs-Therapien zur Verfügung zu stellen.

Referenzen

  1. World Health Organisation. Cancer Today. Estimated number of deaths in 2020, worldwide, both sexes, all ages. . Zuletzt zugegriffen: 29.10.2021

  2. DGHO. Leitlinie Lungenkarzinom, nicht-kleinzellig (NSCLC). . Zuletzt zugegriffen: 13.10.2021

  3. Sakamoto H et al., Cancer Cell 2011; 19: 679-690

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