Wenn Mehrwert nicht mehr wert ist
Wie neue Arzneimittel trotz Zusatznutzen ausgebremst werden
Eigentlich ist die Sache klar: Innovationen haben ihren Preis. Fortschritte werden belohnt, damit sich Investitionen in Forschung und Entwicklung und damit verbundene Risiken auszahlen. Das galt bislang auch in der pharmazeutischen Forschung. Innovationen, die das Leben von Patient:innen verbessern, wurden in Deutschland honoriert, Arzneimittel ohne erwiesenen Mehrwert dagegen nicht. Trotz zunehmender struktureller Probleme, funktionierte dieses Prinzip in den vergangenen Jahren dennoch so gut, dass Patient:innen hierzulande so schnell wie in kaum einem anderen Land Zugang zu neuen, wirksameren Medikamenten erhielten - ohne dass die Preise für Arzneimittel aus dem Ruder liefen. Nun soll für neuartige Arzneimittel in vielen Fällen aber gelten: Nicht mehr wert, trotz Mehrwert! Könnte es mit dem schnellen und breiten Zugang zu wirksameren, neuartigen Arzneimitteln bald vorbei sein?
Preisfindung bei Arzneimitteln: Wie lief es bisher?
Fortschritt belohnen, Stillstand bestrafen: Das Prinzip ist auf den ersten Blick ganz einfach. In der sogenannten frühen Nutzenbewertung wird evaluiert, ob ein neues Arzneimittel gegenüber einer bereits zugelassenen Standardtherapie einen Zusatznutzen hat, z. B. ob Patient:innen mit dem neuen Medikament länger oder besser leben oder gar geheilt werden können. Wurde bislang ein Zusatznutzen festgestellt, konnten Arzneimittelhersteller und Krankenkassen einen Erstattungsbetrag verhandeln, der diesen Mehrwert honorierte und über dem Preis der Vergleichstherapie lag. Gab es keinen Zusatznutzen, gab es auch nicht mehr Geld.
Die Forschung entwickelt sich weiter, das System nicht: Seit zwölf Jahren werden neue Arzneimittel in Deutschland so bewertet und bepreist. Bereits 2011 war allerdings absehbar: Ein System, das Innovationen und Neuentwicklungen bewertet, muss sich auch selbst stetig weiterentwickeln, denn Kriterien zur Bewertung neuer Therapien aus den 00er Jahren sind heute längst überholt. Diese Weiterentwicklung hat schlicht nicht stattgefunden. Neue Studienkonzepte, neue Möglichkeiten zur Auswertung von Versorgungsdaten und völlig neue Wirkansätze, etwa Gentherapien oder immer personalisiertere Arzneimittel lassen sich mit z.T. jahrzehnte alten Bewertungsmaßstäben nicht mehr evaluieren.
Die Folge: Viele Arzneimittel, die in klinischen Studien deutliche Vorteile für Patient:innen zeigen, erhalten trotzdem das Prädikat “geringer”, “nicht-quantifizierbarer” oder sogar “kein Zusatznutzen”. Immer wieder wurden Innovationen so bereits in den letzten Jahren ausgebremst. Evidenz, die Zulassungsbehörden und Fachgesellschaften überzeugt, wird also bereits heute häufig aus formalen Gründen unberücksichtigt ausgeschlossen. Eine Nutzenbewertung entlang aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Maßstäbe findet nicht statt. Statt das grundsätzlich gute Prinzip einer nutzenbasierten Preisfindung fit für die Zukunft zu machen, wird das System durch einen neuen Preisdeckel, die sogenannten “Leitplanken”, im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierunggesetzes (GKV-FinStG) ausgehöhlt und ad absurdum geführt.
Was ist der Preisdeckel?
Mehrwert - nichts wert?! Neuerdings gilt: Erhält ein Arzneimittel einen “geringen” oder “nicht-quantifizierbaren Zusatznutzen”gegenüber der Vergleichstherapie, wird sein Preis gedeckelt. Es darf dann nicht mehr kosten, als die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) definierte Vergleichstherapie - auch wenn es nachweislich länger oder besser wirkt oder z.B. verträglicher ist und ein Zusatznutzen nachgewiesen wurde. Lautet das Urteil “kein Zusatznutzen", muss das neue Arzneimittel sogar automatisch 10 Prozent weniger als die Vergleichstherapie kosten.
Rund ein Drittel aller Nutzenbewertungsverfahren enden mit dem Urteil “geringer” oder “nicht-quantifizierbarer” Zusatznutzen, über 40 Prozent mit “Zusatznutzen nicht belegt” - in drei von vier Fällen aus formalen Gründen. Eine in die Jahre gekommene Nutzenbewertung, die nicht mehr in der Lage ist, therapeutische Innovationen nach den neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Kriterien zu begutachten, trifft mit dem Preisdeckel auf ein politisches Instrument des Bundesministeriums der Gesundheit, das sich diese strukturelle Schwäche zunutze macht.
Die aufwendige und risikoreiche Entwicklung neuer Arzneimittel wird so gleich mehrfach bestraft: Einerseits durch immer neue Rabattinstrumente wie Herstellerrabatt, Preismoratorium oder den kürzlich im Rahmen des GKV-FinStG beschlossene Kombinationsrabatt. Andererseits hatten neuartige Arzneimittel in der Vergangenheit durch veraltete Bewertungskriterien ohnehin bereits einen schweren Stand in der Preisverhandlung. Mit dem Instrument “Preisdeckel” wird nun die Möglichkeit, einen dem Mehrwert annähernd angemessenen Preis zu verhandeln, gänzlich zerstört. Die Konsequenzen sind bereits heute sichtbar: Neue Medikamente gegen fortgeschrittenen Lungenkrebs (Janssen-Cilag), schwarzen Hautkrebs (Bristol-Myers Squibb) oder HIV (Gilead) werden in Deutschland nicht eingeführt oder vom Markt genommen.
Am Beispiel: Was steckt hinter einem "nicht-quantifizierbaren Zusatznutzen”?
Was es für Patient:innen bedeutet, wenn Medikamente mit “nicht-quantifizierbarem” oder “geringem Zusatznutzen” nicht mehr zur Verfügung stehen, lässt sich am Beispiel des frühen Lungenkrebs eindrücklich verdeutlichen: Rund 50 Prozent dieser Patient:innen erleiden bisher trotz erfolgreicher Operation einen Krankheitsrückfall. In der Regel ist dann die Chance auf Heilung vertan - bei einer Krebsart, die weltweit, auch in Deutschland, nach wie vor die meisten Todesopfer fordert. Krebsimmuntherapien können bei diesen Patient:innen sowohl das Rückfallrisiko als auch das Risiko zu versterben, mehr als halbieren.
Im Rahmen einer Nutzenbewertung bezeichnete Prof. Bernhard Wörmann als Vertreter der medizinischen Fachgesellschaft DGHO (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie) diese Ergebnisse als “beeindruckend”, Prof. Frank Griesinger als Vertreter der AIO (Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie) sagte in der entsprechenden Anhörung gar: “Hier nicht einen beträchtlichen Effekt festzustellen, wäre wirklich nicht in Ordnung.”
Sterblichkeit mehr als halbiert - ein Mehrwert, der zukünftig nicht mehr wert wäre?
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), dessen Leitung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit bestellt wird, erklärte: Kein Zusatznutzen - aus formalen Gründen. Im Nutzenbewertungsverfahren beschied der G-BA zumindest einen nicht-quantifizierbaren Zusatznutzen. In zukünftigen Verfahren greift nun der Preisdeckel des GKV-FinStG. Der erwiesene Mehrwert? Je nach Vergleichstherapie plötzlich nicht mehr wert - mit potenziell gravierenden Auswirkungen für Ärzt:innen, Patient:innen und den Innovations- und Wirtschaftsstandort Deutschland.
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