Mit jedem einzelnen Datensatz wird unser Bild von Erkrankungen schärfer

Das Interview erschien ursprünglich am 18. November 2019 in der publicateur Publikation „Chancen der Medizin“ als Beilage im Handelsblatt.

Ob nun die elektronische Patientenakte, Telemedizin oder Gesundheits-Apps: Die Diskussion um die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist im vollen Gange – und sie ist vielfältig wie nie zuvor. Eine, die sich täglich mit der digitalen Transformation in der Medizin beschäftigt, ist Susanne Schach. Bei der Roche Pharma AG im südbadischen Grenzach-Wyhlen leitet die promovierte Biologin den Bereich für Real World Data.

Liebe Frau Dr. Schach, was versteht man unter Real World Data?

Schach: Unter dem Sammelbegriff der Real World Data werden ganz allgemein Daten zum Gesundheitszustand zusammengefasst, die in der medizinischen Versorgung erhoben werden. Das können beispielsweise Informationen aus Krankheitsregistern oder Patientenakten sein. Aber auch Daten, die heute über Gesundheits-Apps oder die sogenannten Wearables erfasst werden, fallen letztlich in diesen Bereich. Gemeinsam ist diesen Daten, dass sie die tatsächliche Realität im Behandlungsalltag abbilden – und damit unterscheiden sie sich deutlich von jenen Informationen, die im Rahmen klinischer Studien unter sehr kontrollierten Bedingungen erhoben werden.

Das klingt nach sehr vielen Daten …

Schach: In der Tat, und das Volumen wächst mit jedem Tag weiter an. Wir gehen beispielsweise davon aus, dass rund 95 Prozent aller potentiell vorhandenen Daten in der Onkologie im Rahmen der alltäglichen Versorgung generiert werden. Es ist kaum vorstellbar, was für ein Wissensschatz für die Forschung in diesen Daten steckt. Bislang werden Real World Daten aber viel zu selten in wertvolle Informationen überführt und das Potential, das diese Informationsquelle bietet, wird nur unzureichend genutzt.

Wie könnten diese Daten genutzt werden?

Schach: Potentiell kann die Analyse von Real World Data mit entsprechender Qualität insgesamt dazu beitragen, den medizinischen Fortschritt und die Patientenversorgung effektiver zu gestalten. Das fängt bereits bei der frühen Forschung an: Mit jedem Datensatz wird unser Bild von Erkrankungen schärfer und es ergeben sich potentielle neue Ansatzpunkte für die Arzneimittelentwicklung. Aber auch klinische Studien und regulatorische Prozesse, beispielsweise Zulassungs- und Erstattungsverfahren, können durch die Auswertung qualitativ hochwertiger Real World Data beschleunigt werden. In der Versorgung kann die Analyse dieser Daten letztlich dazu beitragen, dass mehr Patientinnen und Patienten genau die Behandlung erhalten, die optimal an ihre Krankheits- und Lebenssituation angepasst ist. Unterm Strich muss es darum gehen, eine Art forschende Gesundheitsversorgung zu etablieren, in der wir von jeder einzelnen Patientin und jedem einzelnen Patienten dazulernen. Wenn uns dies gelingt, werden wir nicht nur immer besser verstehen, wie wir Patientinnen und Patienten besser behandeln können – langfristig werden wir Erkrankungen möglicherweise sogar verhindern können.

Woran scheitert es bislang?

Schach: Der Schlüssel liegt in der Vernetzung und der Qualität der Daten. Denn interessant sind tatsächlich nicht die Daten der einzelnen Patientin und des einzelnen Patienten. Erst die Vernetzung von vielen Tausend Datensätzen macht es überhaupt möglich, Muster zu erkennen, die dann wiederum für die Forschung, aber auch für individuelle Therapieentscheidungen genutzt werden können. In der Realität sind wir davon hierzulande noch ein gutes Stück entfernt: Viele Daten entsprechen nicht den qualitativen Ansprüchen, sind unstrukturiert und viel zu oft liegen sie noch immer nur auf dem Papier vor. Um das Potential von Real World Data für den medizinischen Fortschritt zu nutzen, brauchen wir einheitliche Qualitätsstandards – und eine Infrastruktur, die die Vernetzung und den Austausch von Daten zu wissenschaftlichen Zwecken überhaupt ermöglicht.

Wie kann das gelingen?

Schach: Mit den entsprechenden Investitionen – und vor allem einem gemeinsamen Willen aller Beteiligter im Gesundheitssystem. Denn rein technisch sind die Möglichkeiten dank Digitalisierung und moderner Informationstechnologien längst gegeben: In den USA hat unser strategischer Partner Flatiron Health beispielsweise in Kooperation mit Kliniken und Forschungseinrichtungen innerhalb weniger Jahre eine Plattform etabliert, die Versorgungsdaten von Krebspatienten standardisiert erfasst, miteinander vernetzt und somit nutzbar macht. Mittlerweile sprechen wir hier von den Daten von mehr als zwei Millionen Krebspatienten. Und diese Daten können sowohl von Zulassungsbehörden, Kliniken, der Wissenschaft als auch anderen forschenden Unternehmen genutzt werden.

Daten sind ein sensibles Thema …

Schach: Absolut, und das ist insbesondere im Kontext von Gesundheitsdaten auch gut so. Für uns, als forschendes Gesundheitsunternehmen, das in der Vergangenheit tausende klinische Studien mit Millionen von Patientinnen und Patienten durchgeführt hat, steht außer Frage: Der Schutz aller Daten zu Einzelpersonen hat immer oberste Priorität. Gleichzeitig glaube ich aber, dass die Diskussion momentan von diffusen Ängsten vor unerlaubten Datenzugriffen dominiert wird. Datenschutz ist wichtig – aber darf nicht zur Blockade werden. Denn für uns ist klar: Wir müssen einen Ausgleich finden zwischen den Rechten des Individuums an seinen Daten und dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen, den ein verantwortungsvoller Umgang mit diesen Daten in Aussicht stellt. Gerade der gesellschaftliche Aspekt wird in der Debatte bisher viel zu wenig berücksichtigt. In diesem Zusammenhang ist am Ende vor allem auch die Politik gefragt, die einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für die Nutzung von Patientendaten zu wissenschaftlichen Zwecken schaffen muss.

Krebs und Therapie

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