In der Medizin stehen die Zeichen immer auf Fortschritt. Und auch hier führt die Digitalisierung zu neuen Ansätzen und großer Dynamik: Die verstärkte Analyse von Daten aus dem klinischen Alltag – sogenannte Real World Data – bringt Erkenntnisse, die bislang so nicht verfügbar waren. Noch liegen die Daten verstreut auf Krankenhausservern, in Arztpraxen oder bei Versicherungen. Gelingt es, sie richtig zu strukturieren und – in einem gesellschaftlich akzeptierten rechtlichen Rahmen – zu analysieren, können sie dazu beitragen, Leben zu retten.
„Im Forum schrieben viele, diese Behandlung hätte nichts gebracht.“ Wenn sich Patienten in der Sprechstunde auf ihre Online-Recherche beziehen, reagieren viele Ärzte wahlweise mit ungläubigem Blick, einem Seufzen oder direkt mit dem Verweis auf die eigene langjährige Berufserfahrung. „Das Internet bringt dem Erkrankten lediglich gefährliches Halbwissen“, heißt es sinngemäß aus Kreisen der Behandelnden – zum Beispiel in der Studie „Wie Ärzte den ‚informierten Patienten‘ in der Praxis erleben“ von 2018. Doch stimmt das wirklich? Wäre es nicht gut, die Erfahrungen von Patienten zu sammeln und systematisch auszuwerten?
Folgendes Szenario: Einer 75-jährigen Dame wird nach einer Untersuchung eine Herzinsuffizienz diagnostiziert. In der Patientenakte erfährt die behandelnde Ärztin von den Vorerkrankungen der Patientin: sie leidet zusätzlich an Bluthochdruck und Typ II Diabetes. Bei der Therapieauswahl ist nun Vorsicht geboten. Glücklicherweise kann die Medizinerin sich Unterstützung von einer Datenbank holen, in die sie Diagnose und Komorbiditäten sowie relevante Stammdaten der Patientin eingibt. Die Datenbank führt nun einen Abgleich mit unzähligen anonymisierten Krankenakten durch. Die Erfahrungen mit verschiedenen Therapieoptionen von Patienten mit einer vergleichbaren Krankengeschichte werden der Ärztin nun in übersichtlicher Form zur Verfügung gestellt. Sie kann sich so fundiert für die beste Therapie der Risikogruppe der Patientin entscheiden. Dass diese dann einen besonders schnellen und effektiven Nutzen erzielt, ist weitaus wahrscheinlicher als ohne diesen Abgleich.
„So eine fiktive Datenbank ist kein fernes Zukunftsszenario. Die Basis dafür ist geschaffen - sie war im Grunde genommen schon immer da und wächst jede Minute weiter.“, sagt Dr. Susanne Schach, Real World Data Director bei Roche – man müsste nur Struktur reinbringen. Allein in Deutschland existieren Unmengen an „Real World Data“ (RWD), Daten, die nicht in minutiös geplanten klinischen Studien anfallen, sondern im Versorgungsalltag. Sie liegen in Arztpraxen, Krankenhäusern, Laboren oder auf Cloud-Servern. Die Bandbreite der Quellen vergrößert sich durch die Digitalisierung stetig: Elektronische Patientenakten gehören ebenso dazu wie MRT-Aufnahmen, handschriftliche Arztnotizen, Blutproben sowie Risikoprofile der Krankenkassen. „Ergänzt wird dieses Spektrum mittlerweile auch durch Apps oder Smart Watches zum Gesundheitstracking, die sich nicht nur bei Menschen mit bekannten Vorerkrankungen großer Beliebtheit erfreuen.“, fügt Schach hinzu. Die große Anzahl an Datenquellen lässt es bereits vermuten, Zahlen aus der Onkologie machen es deutlich: 96% der medizinischen Daten fallen aktuell in der realen Welt an – lediglich 4% aller Krebspatienten sind im Rahmen klinischer Studien behandelt (Quelle: doi:10.1200/JOP.0922001).
Doch was passiert mit den Daten aus dem Versorgungsalltag, den 96%? „Nicht viel“, so die ernüchternde Antwort von Eva Schumacher-Wulf, Chefredaktion Mamma Mia! Das Brustkrebsmagazin. „Die meisten dieser Informationen werden nicht genutzt – zum Teil werden sie nicht einmal in digitaler Form erfasst und verstauben in Aktenschränken.“ Da sie nicht breit zugänglich sind, werden bis heute primär die Erkenntnisse aus klinischen Studien als Orientierung für Forschung, Diagnostik sowie Behandlungsempfehlungen genutzt. Während niemand die Notwendigkeit klinischer Studien anzweifelt, ergeben sich aus ihnen doch gewisse Beschränkungen: Die Daten kommen aus stark selektierten Patientengruppen, alte und körperlich schwache Menschen sind oft von der Teilnahme ausgeschlossen, außerdem sind die Studien zeitlich beschränkt und bilden in der Regel nur eine Behandlungslinie ab. „In klinischen Studien können die teils langen und komplexen Therapiealgorithmen nicht abgebildet werden. Insbesondere im Bereich der Onkologie wäre dies aber sinnvoll, da hier selten nur ein Medikament von Anfang bis Ende der Behandlung gegeben wird“, unterstreicht Eva Schumacher-Wulf. Hier zeigt sich auch, dass klinische Studien sprichwörtlich unter „Laborbedingungen“ ablaufen und nicht immer den tatsächlichen klinischen Alltag widerspiegeln. Auch das kann Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf haben. Real World Data hingegen können ein ganzheitliches Bild vom Gesundheitszustand eines Patienten und dem langfristigen Nutzen einer Behandlung vermitteln. Für Susanne Schach ist klar: „Kombiniert man die Informationen beider Quellen, so erhält man ein Datenspektrum, das hinsichtlich Qualität und Relevanz deutlich hochwertiger ist.“
Dafür müsste es gelingen, die Daten z.B. mittels computergestützter Techniken nicht nur systematisch zu sammeln, sondern auch sinnvoll zu strukturieren, bevor sie Ärzten und Wissenschaftlern anonymisiert zugänglich gemacht werden. „Je besser und umfänglicher diese Harmonisierung gelingt, desto besser sind die Daten für diagnostische und insbesondere therapeutische Zwecke nutzbar.“, erklärt Prof. Frank Griesinger, Direktor der Universitätsklinik für Onkologie am Pius Hospital Oldenburg. Das würde jedem einzelnen Patienten nutzen und könnte gleichzeitig das gesamte Gesundheitssystem entlasten - unter anderem durch Vermeidung von Doppeluntersuchungen und dem schnelleren Erkennen schwerer, aber sehr seltener Nebenwirkungen.
Einen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte, bieten hierzulande bereits die Patientenregister. Diese widmen sich meist einer bestimmten Krankheit und enthalten Behandlungsinformationen aus dem Versorgungsalltag. Für die Entzündungskrankheit rheumatoide Arthritis (RA) etwa gibt es das RABBIT-Register, das Beobachtungen bei über 5000 Patienten bündelt. Aus den Informationen der Rheumatologen entwickelte ein Forscherteam einen Risikoscore für die Behandlung mit bestimmten Medikamenten. Dieser zeigt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein RA-Patient innerhalb des nächsten Jahres eine schwerwiegende Infektion erleidet, weil sein Medikament zwar die Entzündung hemmt, dafür aber das Immunsystem schwächt.
Mediziner können den Score mit einem Online-Tool selbst berechnen, indem sie wenige Fragen beantworten – zum Beispiel, wie alt der Patient ist, ob er eine chronische Nierenerkrankung hat oder wie hoch die verabreichte Kortison-Dosis ist. Der Score, so die Urheber, kann ärztliches Know-how mitnichten ersetzen. Doch er kann helfen zu klären, welches Risiko der Einsatz eines bestimmten RA-Präparats mitsamt seinen Nebenwirkungen möglicherweise birgt. Ist das Risiko hoch, kann der Arzt die Kontrollen enger takten und so gefährliche Infektionen durch eine Therapieanpassung bereits im Keim ersticken.
Bei kaum einer bösartigen Erkrankung sind neue Therapieformen in den letzten zehn Jahren so schnell zugelassen worden wie beim Lungenkarzinom. Diese neuen Zulassungen sind fast immer gekoppelt an den Nachweis bestimmter Merkmale von Tumoren, in der Regel genetischen Veränderungen oder auch Biomarker. Wie gut diese sogenannte Präzisionsmedizin bereits funktioniert, wie nachhaltig sie ist, welche regionalen oder strukturellen Unterschiede es bei der Testung gibt, lässt sich heute bereits in repräsentativen Registern gut abbilden. In diesen können zahlreiche Patientenerfahrungen zusammengefasst und so für die Forschung nutzbar gemacht werden. Eines der bekanntesten Register wurde für Lungenkerbs angelegt. In CRISP, so der Name des Registers, konnte dargestellt werden, dass in spezialisierten Zentren bis zu 50 Prozent der Patienten unzureichend auf relevante Biomarker getestet werden. Daraus lässt sich ableiten, dass auch etwa die Hälfte der Patienten keine optimale Therapie erhalten. Die Gründe für die mangelnde Testung liegen überwiegend in der fehlenden Vergütung. „Das hat negative Auswirkungen auf die Verschreibung hoch wirksamer und personalisierter Therapien und bedeutet für Patienten eine schlechtere Lebensqualität als durch die optimale Behandlung möglich wäre.“, betont Prof. Frank Griesinger, der auch Sprecher des CRISP Steuerungskreises ist.
„Real World Data können auch zeigen, ob Vorsorgeuntersuchungen echten Mehrwert schaffen. Das ist wichtig, um sinnvolle Maßnahmen zu fördern und ineffektive Maßnahmen einzustellen.“, stellt Doris Schmitt, Vorstand der Stiftung PATH, fest. „Und im Endeffekt hilft es, die Menschen für das wichtige Thema Prävention zu sensibilisieren.“ Ein gutes Beispiel hierfür ist die Darmkrebsfrüherkennung: Datenanalysen des Robert-Koch-Instituts für die Jahre 2004-2014 zeigten, dass seit Einführung der Darmspiegelung deutlich weniger Menschen in Deutschland an Darmkrebs sterben. Die sogenannte altersstandardisierte Sterberate ist um mehr als 20% zurückgegangen. Ein regelrechtes Plädoyer für eine vielleicht unangenehme, aber potenziell lebensrettende Maßnahme. Veröffentlichungen von Erfolgsmessungen dieser Art haben das Potential, nicht nur offensichtlich gefährdete Patienten für eine Vorsorgeuntersuchung zu interessieren – auch weitere Altersgruppen werden angesprochen und das Bewusstsein für Darmgesundheit erweitert.
Die Beispiele zeigen, dass die bereits vorhandenen Daten aus der Routineversorgung noch stärker genutzt werden sollten – zum Wohl des Patienten. Durch Anonymisierung oder Pseudonymisierung kann erreicht werden, dass Behandlungsdaten nicht dem einzelnen Patienten zugeordnet werden können. Analysen geben Ergebnisse zudem in aggregierter Form aus. Das heißt, dass Daten mehrerer Patienten zusammengefasst werden. Allerdings könnte es manchmal hilfreich sein, einen Bezug zu einer bestimmten Person herzustellen, beispielsweise, um auf eine Studie aufmerksam zu machen, die zum Krankheitsprofil passt. Experten schlagen daher vor, dass der Patient selbst entscheiden soll, ob seine Daten anonymisiert werden, oder nicht.
Das kann dazu beitragen, das Vertrauen und Verständnis für die Datennutzung zu stärken. „Nur wenn dies gelingt, kann ein breiter gesellschaftlicher Konsens entstehen, der dem einzelnen Bürger hilft: Im schlimmsten Fall, wenn er bereits erkrankt ist um die bestmögliche Therapie zu gewährleisten. Im besten Fall lassen sich Krankheiten mithilfe der Erkennung von Risikogruppen und Diagnostik bereits verhindern.“, schließt Doris Schmitt.
Eine aktuelle Umfrage der Beratungsunternehmen PwC und strategy& von 2018 malt ein positives Bild für die Zukunft der Datennutzung. Die Analyse zeigt, dass 80 Prozent der Deutschen bereit wären, ihre persönlichen Daten weiterzugeben, wenn sie damit die Krebsforschung vorantreiben könnten. Und eines scheint sicher: Bei der Wissenschaft wären sie in jedem Fall besser aufgehoben als in einem Online-Forum.
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