Von Erin Biba. Erin Biba ist freie Wissenschaftsjournalistin aus New York. Ihre Artikel erscheinen regelmäßig in Zeitschriften wie Scientific American und Newsweek.
Im Jahr 1978 legte eine 27-jährige Harvard-Absolventin, die für die US-Regierung in Washington, D.C., tätig war, plötzlich ungewöhnliche Verhaltensweisen an den Tag.
Das neue Verhalten stand im Gegensatz zu ihrer ansonsten eher konservativen und zurückhaltenden Art. Die junge Frau wurde an einen Psychiater verwiesen, doch nach nur zwei Wochen war sie nicht mehr in der Lage zu sprechen. Schnell wurde sie in ein Krankenhaus eingeliefert. Innerhalb von 24 Stunden konnte sie nicht mehr schlucken und war halbseitig gelähmt. Die junge Frau litt an Multipler Sklerose (MS).
„Damals konnten wir für Menschen mit MS noch nichts tun“, erinnert sich Dr. Stephen Hauser, einer der Ärzte der jungen Frau und heute Leiter der neurologischen Fakultät an der University of California in San Francisco. Hauser hatte damals gerade sein Studium beendet und absolvierte seine Ausbildung zum Facharzt. Mitzuerleben, wie schnell diese intelligente junge Frau – die im selben Alter war wie er – abbaute, hat ihn tief geprägt. „In den Lehrbüchern wurde damals empfohlen, mit diesen Menschen nicht über die Zukunft zu sprechen. Ich weiß noch, wie unfassbar ungerecht mir das damals vorkam.“
Diese bewegende Erfahrung veranlasste Hauser dazu, sein Leben der Suche nach einer Behandlungsmethode für diese Erkrankung zu widmen, damit MS-Patienten in Zukunft nicht dasselbe Schicksal erleiden müssen. „Etwa ein Jahr später traf ich diese Patientin in unserer örtlichen Rehaklinik wieder. Sie war noch immer gelähmt, konnte nur wenige Worte sprechen, wurde über eine Magensonde ernährt, hatte einen Luftröhrenschnitt zur Beatmung bekommen und saß im Rollstuhl. So sah die aggressive MS damals aus.“
Knapp 40 Jahre später hat sich die Therapielandschaft weiterentwickelt. Heutzutage haben Ärzte mehr Möglichkeiten, um das unaufhaltsame Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern oder zu verlangsamen. Eine Heilung gibt es jedoch noch immer nicht und die hochwirksamen Arzneimittel zur Behandlung der MS bergen das Risiko schwerer Nebenwirkungen. (1) Patienten, die an dieser lebenslangen Krankheit leiden, brauchen weitere Behandlungsoptionen. Dank der Forschung von Hauser und anderen haben wir heute ein wesentlich fundierteres Verständnis von den Ursachen und der Entstehung der Krankheit.
In Europa sind rund 700.000 Menschen von Multipler Sklerose betroffen. (2) MS ist die Hauptursache neurologischer Behinderungen bei jungen Menschen. Aus bisher unbekannten Gründen tritt die Erkrankung am häufigsten in Ländern auf, die am weitesten vom Äquator entfernt liegen. (3,4) MS wird in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren diagnostiziert – und tritt bei Frauen wesentlich häufiger auf als bei Männern. (3,5)
Über die Ursachen der Erkrankung ist sich die Forschung noch immer nicht sicher. Allerdings verstehen wir heute, wodurch die häufigsten Symptome von MS – nämlich Fatigue, Gehschwierigkeiten, Sehschwierigkeiten und Blasenfunktionsstörungen – ausgelöst werden. (6) Die Entstehung von Multipler Sklerose lässt sich letztlich auf ein außer Kontrolle geratenes Immunsystem zurückführen.
Normalerweise zirkulieren bestimmte Zellen des körpereigenen Immunsystems – sogenannte T- und B-Zellen – im Körper und halten Ausschau nach körperfremden Eindringlingen, die Infektionen auslösen. Aufgabe dieser Zellen ist es, Fremdkörper zu erkennen, andere Teile des Immunsystems zu aktivieren und gemeinsam mit ihnen die infektiösen Eindringlinge abzutöten.
In einem gesunden Organismus vollzieht sich diese Immunreaktion in allen Bereichen des Körpers mit Ausnahme des Gehirns und des Rückenmarks. Diese verfügen über eine spezielle Schranke, die sie gegen schädliche Eindringlinge, die im Blut zirkulieren, schützt. Bei Menschen mit MS ist diese sogenannte Blut-Hirn-Schranke jedoch gestört, sodass Immunzellen ins Gehirn eindringen können. (7) Dort greifen die Immunzellen die Myelinschicht an, die die Nervenzellen im Gehirn schützend umgibt. Es kommt zu lokalen Entzündungen im Gehirn. Das Gehirn versucht den vom Immunsystem verursachten Schaden zu beheben und es kommt zur Bildung von Narbengewebe oder Plaques. (8,9) Infolgedessen wird die Signalübertragung zwischen Gehirn und Körper gestört, der Körper funktioniert nicht mehr normal und zumeist verschlimmern sich die Symptome mit der Zeit. (10)
Derzeitige Behandlungsansätze versuchen, den Angriff des Immunsystems auf das Myelin zu verhindern oder zu verlangsamen. Diese Methode wurde Ende der 1970er Jahre entwickelt und stellt noch heute die Standardbehandlung dar. Damals hatten mehrere Forscher unabhängig voneinander nachgewiesen, dass T-Zellen – eine Art von weißen Blutzellen, die der Immunabwehr dienen – genutzt werden können, um Entzündungserkrankungen von einer Maus auf eine andere zu übertragen. (7) Diese Entzündungserkrankungen ähnelten der MS, sodass die Forscher glaubten, die Ursache für den Abbau der Myelinschicht im Gehirn gefunden zu haben.
Die Übertragung der Krankheit von einer Maus auf eine andere, genetisch identische Maus „stellte die Weichen für das gesamte Forschungsgebiet neu", so Hauser. „Das war für einen Großteil der Wissenschaftsgemeinde der Beweis dafür, dass T-Zellen eine zentrale Rolle bei MS spielen.“
Seitdem legten MS-Therapien deshalb den Fokus auf die T-Zellen. Dr. Paulo Fontoura, Global Head Clinical Development, Neuroscience, von Roche, sagt: „Die meisten Forschungsprojekte und klinischen Studien zu MS waren auf T-Zellen ausgerichtet, weil das gängige Krankheitsmodell auf diesen Zellen basierte. Endlich hatte man ein biologisches Ziel, an dem man ansetzen konnte, um Betroffenen dieser unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung zu helfen.“
Da jedoch niemand in der Lage gewesen war, allein durch T-Zellen eine MS-typische Läsion (oder Plaques) im Gehirn auszulösen, spekulierten Hauser und andere Forscher auf diesem Gebiet, dass T-Zellen möglicherweise nicht die einzigen Teile des Immunsystems waren, die für die Entstehung der Erkrankung verantwortlich waren. Möglicherweise gab es noch mehr herauszufinden. Auch wenn T-Zellen nachweislich eine Rolle bei der Entstehung von MS spielten, wusste schließlich niemand, wodurch MS ausgelöst wurde, sodass es äußerst schwierig war, die Erkrankung bei lebenden Probanden zu replizieren.
Dies gelang den Forschern erst 1998, also fast 18 Jahre nachdem sich die ursprüngliche T-Zellen-Hypothese durchgesetzt hatte. Hauser und seine Kollegen Norman Letvin, damals Leiter des New England Primate Research Center der Universität Harvard, und Luca Massacesi, Postdoktorand in Hausers Labor, führten eine Reihe von Experimenten durch, in denen es ihnen gelang, eine Läsion im Gehirn auszulösen, die aussah wie MS. (11) Dies markierte einen wichtigen Wendepunkt, der es ihnen ermöglichte, die Krankheit genauer zu erforschen.
„Damals waren wir an einen Punkt angelangt, an dem wir glaubten, ein Surrogat für MS gefunden zu haben“, sagt Hauser – also ein Modell, das von den tatsächlichen Abläufen im menschlichen Körper nicht unterscheidbar war. Laut Hauser lag der Schlüssel darin, den Fokus auf die Veränderungen des Gewebes im Gehirn zu legen – die Plaques. Und zum ersten Mal waren sie davon überzeugt, eine MS-ähnliche Plaque erschaffen zu haben.
Als sie weitere Experimente durchführten, um die Pathologie der Erkrankung noch besser zu verstehen, stießen Claude Genain von der University of California San Francisco sowie Cedric Raine vom Albert Einstein College of Medicine zum Forschungsteam dazu. Sie fanden schließlich heraus, dass es nicht nur T-Zellen waren, sondern auch die Antikörper des Immunsystems im Gehirn von MS-Patienten, die es möglich machten, die MS-typische Plaque genau zu replizieren. Durch eine gründliche Untersuchung dieser Antikörper und ihrer Rolle bei der Entstehung von MS erkannte Raine, dass T-Zellen anscheinend dafür verantwortlich waren, die Blut-Hirn-Schranke zu öffnen, damit Antikörper in das Zentralnervensystem eindringen konnten, wo sie anfingen, die Myelinschicht anzugreifen und zu zerstören. (11)
In diesem Moment der Erkenntnis konnte erstmals nachgewiesen werden, dass T-Zellen nicht allein für die Entstehung der Krankheit verantwortlich sind. Obwohl diese Hypothese bereits früher in Erwägung gezogen worden war, führten nur wenige andere Forscher dieselbe Art von Experimenten durch wie Hauser und seine Kollegen – einerseits wegen der Schwierigkeit, MS zu replizieren, andererseits wegen des allgemeinen Zuspruchs für die etablierte T-Zellen-Theorie. Nachdem nun die Rolle einer anderen Zellart bei der Entstehung von MS klar geworden ist, eröffnete sich endlich die Möglichkeit einer alternativen Methode der MS-Behandlung.
Die im Gehirn von MS-Betroffenen gefundenen Antikörper entsprachen einem bestimmten Teil der B-Zellen, einem Bestandteil des Immunsystems. Die B-Zelle durchläuft im Laufe ihres Lebenszyklus verschiedene Entwicklungsphasen. In der letzten Phase entwickeln sich einige B-Zellen zu Plasmazellen. Plasmazellen dienen der Produktion von Antikörpern, die spezielle Eindringlinge wie Bakterien oder Viren angreifen und abtöten, und sind damit ein wichtiger Teil des Immunsystems. (12)
Bei MS schienen die Plasmazellen nun jedoch Antikörper zu produzieren, die die Nervenzellen schützend umhüllende Myelinschicht im Gehirn angriffen. Mit anderen Worten: T- und B-Zellen dringen in das Gehirn ein und bauen gemeinsam dessen Schutzsysteme ab. (13)
B-Zellen entstehen als Stammzellen im Knochenmark und erfüllen in jeder einzelnen Phase ihrer Entwicklung eine bestimmte Aufgabe. Im Laufe ihres Lebenszyklus weisen sie verschiedene Kombinationen von Proteinen auf der Zelloberfläche auf, darunter: CD19, CD20, CD27.
Hauser und seine Kollegen mussten weiterforschen, um an den Punkt zu gelangen, an dem diese Entdeckung für MS-Patienten von Nutzen sein würde. Doch die Wissenschaftsgemeinde war so sehr auf den Ansatz der T-Zell-Therapie fokussiert, dass das Interesse an alternativen Forschungsausrichtungen sehr gering war. Hausers Versuch, wissenschaftliche Fördermittel für eine Studie zur B-Zell-Therapie bei Menschen zu bekommen, stieß auf taube Ohren. „Wir bemühten uns 15 Jahre um Förderung, doch es war klar, dass keine US-Regierung bereit wäre, eine solche Studie zu unterstützen, weil jeder wusste, dass MS durch T-Zellen verursacht wurde“, sagt Hauser. „Nicht nur die Regierung, sondern die gesamte Wissenschaftsgemeinde war skeptisch. Wir waren eindeutig Außenseiter.“
Die Wissenschaftler um Hauser mussten einen Partner finden, der bereit war, einem vielversprechenden, aber unbewiesenen Theorieansatz eine Chance einzuräumen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte Genentech, eine zukünftige Tochtergesellschaft der Roche AG, gerade ein Forschungsprojekt zur B-Zell-Therapie bei anderen Erkrankungen abgeschlossen. Es war ein Schuss ins Blaue, aber Hauser nahm Gespräche mit dem Unternehmen auf, um herauszufinden, ob dieses bereit wäre, Patientenstudien zur Überprüfung des Ansatzes einer B-Zell-Therapie bei MS durchzuführen. Zu seiner Überraschung willigte Genentech ein. „Rückblickend war es eine echte Überraschung“, sagt Hauser. „Unglaublich, dass Genentech bereit war, mit einer klinischen Frühphasen-Studie voranzugehen. Zwar schätzten sie die Erfolgschance auf weniger als 15 %, aber es gab genügend Unterstützer, die die Studie bewilligten. Ich denke, sie stimmten zu, weil sie glaubten, dass die Patienten es brauchen würden – Dafür lohnte es sich.“
Weitere Erkenntnisse brachten schließlich die Ergebnisse. „Dieser Moment war für uns alle überwältigend“, sagt Hauser – auch wenn die Ergebnisse ihre ursprüngliche Hypothese nicht exakt bestätigten. Obwohl feststand, dass eine B-Zell-gerichtete Therapie das Potential hatte, MS-Betroffenen bedeutend zu helfen, zeigte die Studie auch, dass wider Erwarten die gewünschte Wirkung nicht durch die Hemmung der von den Plasmazellen produzierten Antikörper erzielt wurde, sondern durch den zielgerichteten Angriff eines kleinen Prozentsatzes an B-Zellen, bevor diese zu solchen antikörperproduzierenden Plasmazellen herangereift waren. „Die Studie hat gezeigt, dass der Schlüssel zum Verständnis der schubförmig remittierenden MS in den B-Zellen liegt, die vom Blut in das Gehirn eindringen. Durch diese Erkenntnis verlagerte sich der immunbiologische Fokus auf die B-Zellen“, so Hauser. (11)
Durch diese Entdeckung glaubten Hauser und seine Kollegen, durch die Entwicklung eines immuntherapeutischen Medikaments zur Bekämpfung dieses kleinen Prozentsatzes von B-Zellen in der Lage zu sein, die MS-typische Bildung von Plaques im Gehirn zu verhindern, ohne dabei das Immunsystem insgesamt zu schädigen. Da diese B-Zellen frei im Blut zirkulieren, sind sie ein wesentlich leichteres Ziel als Plasmazellen.
Viele Ärzte warten heute immer noch, bis die Erkrankung weiter fortgeschritten ist, bevor sie hochwirksame Medikamente verschreiben, da diese mit einem hohen Sicherheitsrisiko verbunden sind. Spezialisten vertreten jedoch immer häufiger die Ansicht, dass eine Behandlung zu einem frühen Zeitpunkt der Erkrankung wirksamer sein könnte, um die fortschreitende Schädigung der Nervenzellen zu reduzieren und das Fortschreiten von MS hinauszuzögern.
Nach drei Jahrzehnten der Forschung haben wir erlebt, dass sich selbst weitverbreitete wissenschaftliche Ansätze letztlich als unvollständig herausstellen können. Hausers einziges Bedauern ist, dass die Rolle der B-Zellen bei der Entstehung von MS nicht früher entdeckt wurde. Mit dieser neuen Erkenntnis gerüstet, können er und seine Kollegen heute entschlossen weiter nach der Ursache von MS forschen und eines Tages hoffentlich sogar eine Heilungsmöglichkeit finden.
Referenzen
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European Multiple Sclerosis Platform. MS Facts. Available at: http://www.emsp.org/about-ms/
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Brück W. The pathology of multiple sclerosis is the result of focal inflammatory demyelination with axonal damage. J Neurol 2005; 252 Suppl 5:v3-9. Available at
Hauser SL. The Charcot Lecture | beating MS: a story of B cells, with twists and turns. Mult Scler 2015; 21: 8-21
Calame KL. Plasma cells: finding new light at the end of B cell development. Columbia University Medical Center 2001; 1103-1108. Available at http://www.cumc.columbia.edu/dept/immune/calame3.pdf
Weber MS, et al. Cooperation of B cells and T cells in the pathogenesis of multiple sclerosis. Results Probl Cell Differ. 2010;51:115-26. Available at
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