Warum das neuartige Coronavirus mehr Männer als Frauen trifft

Frauen sterben seltener an der neuartigen Coronavirus-Erkrankung und bei ihnen treten weniger Komplikationen auf als bei Männern. Ein ähnliches Muster war bei den SARS- und MERS-Ausbrüchen zu beobachten. Doch über die Gründe ist bisher nur wenig bekannt.

Angesichts der weltweiten Ausbreitung von COVID-19 müssen wir uns fragen: Wie können wir verhindern, dass Frauen, die weltweit die Mehrheit der medizinischen Fachkräfte und der primären Pflegepersonen bilden, die Infektion nach Hause in ihre Familien tragen?

Antonella Santuccione Chadha, Neurowissenschaftlerin bei Roche, untersucht, wie der Fokus auf Geschlechter­unterschiede bei Krankheiten die Präzisionsmedizin voranbringen kann. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen vom Women's Brain Project erforscht sie, wie das Geschlecht verschiedene Krankheiten wie Alzheimer und Demenz beeinflusst. Ihr Ziel ist es, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Krankheiten und das Ansprechen auf Medikamente besser zu verstehen und dieses Wissen zu nutzen, um Präzisionsmedikamente, die auf einzigartige biologische Konstellationen abzielen, von der Studienphase zur Behandlungsreife zu bringen.

Als die neuartige Coronavirus-Erkrankung begann, sich in China und darüber hinaus auszubreiten, stellten Antonella Santuccione Chadha und ihre Kolleginnen und Kollegen fest, dass ebenso wie bei SARS und MERS Männer unverhältnismäßig stark betroffen waren. Bei ihnen traten mehr Komplikationen auf und es starben mehr Männer als Frauen an der Erkrankung.

„In China war es offensichtlich, dass zwischen Frauen und Männern ein deutlicher Unterschied in der Sterblichkeitsrate bei COVID-19 bestand”, so Santuccione Chadha, Global Medical Lead Alzheimer Partnerschaften bei Roche. „Das bestätigte sich in Italien und leider auch in Spanien, Deutschland und in der Schweiz, wo die Daten auf dieselben Ergebnisse hindeuteten.”

Die Zahlen belegen, dass Frauen die Mehrheit des medizinischen Personals bilden, das in der Coronakrise weltweit im Einsatz ist. „Man würde also bei Frauen eine höhere Sterblichkeit erwarten”, erklärt Santuccione Chadha. „Das ist aber nicht der Fall: Obwohl sie der Infektion stärker ausgesetzt sind als Männer, zeigen die Daten, dass Frauen weniger häufig an der Krankheit sterben.”

In Italien zum Beispiel waren 56% aller COVID-19-Infektionsfälle (bis 30. März 2020) Männer. Beim medizinischen Personal (das mehrheitlich aus Frauen besteht) beträgt diese Rate jedoch nur 34%.

Ein Merkmal des Virus?

Düstere Zahlen

Den Daten zufolge traten in Italien 70% der Todesfälle durch COVID-19 bei Männern auf (Stand: 26. März 2020). Die Sterblichkeitsrate von Männern ist in anderen Ländern ebenfalls höher: in China 63,8%, in Südkorea 53,6%, in Spanien 64% und in Deutschland 65%. In Spanien sind 61% der aufgrund von COVID-19 hospitalisierten Fälle und 72% der intensivmedizinisch behandelten Fälle Männer.

Demgegenüber starben beim SARS-Ausbruch im Jahr 2003 in Hongkong fast 22% der infizierten Männer im Vergleich zu rund 13% der Frauen. Eine Analyse der MERS-Infektionen zwischen 2017 und 2018 ergab, dass rund 32% der Männer im Vergleich zu knapp 26% der Frauen starben.

"Das wurde nie sorgfältig analysiert oder berücksichtigt”, sagt Santuccione Chadha . „Wir können jetzt zum ersten Mal feststellen, dass diese Geschlechterunterschiede für die Welt offensichtlich wurden. Dies ist eine einzigartige Gelegenheit, geschlechtsspezifische personalisierte Medikamente voranzutreiben."

Hygiene, Gesundheit oder Hormone?

Die Vermutung, dass sich Frauen einfach gründlicher die Hände waschen als Männer, ist Santuccione Chadha zufolge wahrscheinlich nur ein Klischee oder sogar eine Stereotypisierung. Zudem ist auch beim medizinischen Personal, wo in beiden Gruppen strenge Hygienestandards gelten, die Sterblichkeit von Männern höher.

„Ich gehe eher davon aus, dass es dafür eine biologische Erklärung gibt”, so die Neurowissenschaftlerin.

Sie erläutert, dass Frauen eine stärkere Immunantwort haben. Die Fachliteratur deutet darauf hin, dass sich die Immunantwort von Männern und Frauen ab einem Alter von 65 Jahren stark unterscheidet. Bei älteren Männern fällt die entzündungsfördernde Immunantwort stärker aus, was einer geringeren Reaktion auf die Infektion führt.

„Wenn es also zu einer Entzündung in der Lunge kommt, wird eine Kettenreaktion ausgelöst und wir haben Zytokine und Interleukine – die man sich als Botenstoffe der Zellen vorstellen kann – die dann im Körper regelrecht explodieren. Und genau das ist das Problem, denn dann wird es für unseren Körper sehr gefährlich."

Zudem weisen Männer tendenziell viel mehr Ace2-Rezeptoren auf, sodass das Virus dadurch möglicherweise leichter in die Zellen eindringen kann, so Santuccione Chadha.

Antonella Santuccione Chada
Global Medical Lead Alzheimer Partnerschaften bei Roche und Mitgründerin des Women’s Brain Project

„Wir können jetzt zum ersten Mal feststellen, dass diese Geschlechterunterschiede für die Welt offensichtlich wurden. Dies ist eine einzigartige Gelegenheit, geschlechtsspezifische personalisierte Medikamente voranzutreiben.”

Mittelpunkt der Familie

Einer der am häufigsten übersehenen geschlechtsspezifischen Aspekte bei Krankheiten, einschließlich COVID-19, ist die nahezu universelle Rolle von Frauen als Mittelpunkt von Familie und Netzwerken. Hinzukommt, dass der Großteil des medizinischen Personals aus Frauen besteht.

„Ich habe in Italien viele Freundinnen, die Ärztinnen sind und kleine Kinder haben”, sagt Santuccione Chadha. „Sie sagen: 'Weißt du, ich kann nicht zu meiner fünfjährigen Tochter nach Hause kommen und ihr sagen, dass sie mich nicht umarmen darf.' Das ist so gut wie unmöglich.”

„Es ist unerlässlich, Präventivmaßnahmen zu ergreifen, damit weibliche medizinische Fachkräfte nach dem Umgang mit kranken Patienten nicht nach Hause gehen und zu Überträgern oder Verbreitern der Infektion in ihrer Gemeinschaft werden”, so Santuccione Chadha. Manche Länder wie die Schweiz und Deutschland haben Frauen, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten, sofort Unterstützung bei der Betreuung ihrer Familie und ihrer Kinder angeboten. Medizinisches Fachpersonal wird in diesen Ländern auch auf eine mögliche Infektion getestet, um das Risiko einer Ausbreitung der Ansteckung auf ihre Familien, Patienten und Gemeinschaften möglichst zu minimieren.

„All diese Aspekte zeigen, wie wichtig es ist, ein Verständnis dafür zu entwickeln, warum Geschlechterunterschiede bei der Entwicklung von Medikamenten und Präventionsmaßnahmen für COVID-19 sowie andere Krankheiten eine Rolle spielen”, so Santuccione Chadha abschließend.

Beitrag vom 9. April 2020

Geschlechterunterschiede COVID19

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