Hagen Pfundner ist Vorstand der Roche Pharma AG. Er ist Mitglied des Präsidiums des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) sowie Honorarprofessor der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau.
Im Interview spricht er über seine Vision für die europäische Gesundheitsversorgung, die Pharma-Strategie der Europäischen Union (EU) und die Chancen und Hürden, die es für die EU während der deutschen Ratspräsidentschaft zu meistern gilt.
Die Covid-19 Pandemie hat einige Grenzen unseres Gesundheitssystems aufgezeigt. Herr Professor Pfundner, was sind nach Ihrer Meinung die wichtigsten Erkenntnisse aus der Krise?
Eine wichtige Erkenntnis ist zunächst einmal, dass wir in Deutschland ein robustes Gesundheitssystem haben und dass vieles möglich ist, wenn alle Beteiligten - die zuständigen Behörden, die Politik, die Ärzteschaft, die Kliniken, die Labore und die industrielle Gesundheitswirtschaft - an einem Strang ziehen.
Gleichzeitig hat uns die Pandemie die Bedeutung des “Dreiklangs” aus Diagnostik, medikamentöser Behandlung und datengestützter Medizin als Grundlage einer modernen Gesundheitsversorgung vor Augen geführt. Man könnte sogar sagen, dass COVID-19 ein Turbo für die oft als bedrohlich wirkende Digitalisierung in Deutschland und Europa werden könnte - und hiermit meine ich nicht nur die Corona-Warn-App:
Die Zeit, die ein Arzt jetzt benötigt, um ein Bild von einer mit COVID-19 erkrankten Lunge zu erhalten, ist mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) von 30 auf fünf Minuten gesenkt worden. Intelligente Software unterstützt mittlerweile die Ärzte oftmals fachübergreifend im Kontext von Fallbesprechungen und so genannte „Clinical Decision Support Apps“ unterstützen die therapeutische Entscheidungsfindung für den individuellen Patienten.
Großes Potential sehe ich persönlich auch im Bereich der Erforschung und Entwicklung von Therapien, denn hier kann KI große Datenmengen berücksichtigen, die früher nicht berücksichtigt werden konnten bzw. wofür klinische Labore zuvor viele Jahre gebraucht haben. Für die Medizin von morgen brauchen wir deshalb mehr Vernetzung und funktionierende Schnittstellen für den Austausch von strukturierten und qualitativ hochwertigen Gesundheitsdaten, auch auf europäischer Ebene. Das macht Medizin schnell und effizient. Hier sehe ich noch ein deutliches Potenzial. Sowohl in Deutschland als auch in der Europäischen Union (EU).
Die EU-Kommission hat vor kurzem eine öffentliche Beratung zur neuen Pharma-Strategie abgehalten. Wie geht es jetzt weiter?
Die Politik muss die Vision und den Rahmen für die Digitalisierung der Gesundheitssysteme vorgeben, um der heutigen Innovationsgeschwindigkeit gerecht zu werden und das Potenzial einer modernen, digitalisierten Medizin ausschöpfen können. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die EU mit all ihren Organen daran arbeitet, eine resilientere europäische Gesundheitsversorgung zu schaffen und die Innovationsfähigkeit im europäischen Raum zu stärken.
Welche Möglichkeiten und Hürden sehen Sie?
Wir brauchen u. a. eine flächendeckende, technische Infrastruktur für Gesundheitsdaten. Aktuell ist das Datenmanagement noch immer stark fragmentiert. Mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz wird die elektronische Patientenakte nun ab 2021 in Deutschland kommen. Dadurch macht die digitale Vernetzung in Deutschland einen enormen Schritt nach vorne. Jedoch brauchen wir zusätzlich auf europäischer Ebene eine gemeinsame Strategie wie wir mit Gesundheitsdaten einen gesellschaftlichen Nutzen erbringen können. Die Schaffung eines “Europäischen Gesundheitsdatenraums” birgt da ein enormes Potenzial.
Wo gibt es Risiken?
Durch digitale Möglichkeiten können wir individuelle Anforderungen von Patienten noch stärker als bisher in den Mittelpunkt rücken. Das Antragsrecht zu anonymisierten und pseudonymisierten Gesundheitsdaten spielt daher eine zentrale Rolle. Dieser Zugang darf der privaten Wirtschaft und europäischen Gesundheitsindustrie nicht vorenthalten werden. Andernfalls wandern Kompetenzen weiter ab und Unternehmen holen sich Daten aus dem nicht-europäischen Ausland.
Was muss geschehen, um diese Vision in die Tat umzusetzen und den Gesundheitsstandort Europa zu stärken?
Unsere Fortschritte, beispielsweise in der Onkologie, haben gezeigt, dass manche Visionen keine Visionen bleiben müssen. Wir reden von Krebsimmuntherapien, die unsere körpereigene Immunabwehr gezielt gegen den Krebs aktivieren, wir erleben die Anfänge der Gentherapie und arbeiten an Krebsimpfstoffen, die individuell für einzelne Patienten hergestellt werden. Ich bin überzeugt davon, dass wir in absehbarer Zukunft noch viel mehr Patientinnen und Patienten mit innovativen Therapiemöglichkeiten helfen können. Ein europäischer Rahmen sollte Innovationen belohnen, aber auch stimulieren. Wir müssen kleinteilige Strukturen aufbrechen und brauchen einen ganzheitlichen, europäischen Ansatz. Wir haben unsere Vorstellungen in einer Pharma-Strategie ausformuliert und mit der EU-Kommission geteilt. Download unter:
Sie hatten einmal gesagt, dass Sie sich als Unternehmen für „viel mehr Innovation zu viel geringeren Kosten für die Gesellschaft“ einsetzen - wie wollen Sie das erreichen? Können Sie uns einige konkrete Beispiele nennen?
Wir als forschendes Pharmaunternehmen können auf eine lange Geschichte der Entwicklung und Bereitstellung bahnbrechender Therapien zurückblicken, die das Leben von Millionen von Menschen weltweit entscheidend verändert haben. Aber in der heutigen Welt können und müssen wir noch mehr tun. Wir investieren mehr in Forschung und Entwicklung als je zuvor und stellen sicher, dass diese Investitionen noch weitergehen, um kürzere, wirksamere Behandlungen anzubieten, die nicht nur die Ergebnisse verbessern, sondern im Idealfall auch heilen. Wir stellen sicher, dass Patientinnen und Patienten im Bedarfsfall die richtige Behandlung erhalten. Und wir betrachten das gesamte Gesundheitsökosystem, um Möglichkeiten zur Prävention von Krankheiten, zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit und zur Verringerung von Ineffizienz zu ermitteln. Der erwähnte Zugang zu Daten und ihre Nutzung werden dabei eine Schlüsselrolle spielen.
Kurz gesagt: Die alten Silos konventioneller Versorgung müssen sich in Versorgungsnetzwerke wandeln. Die forschenden Pharma-Unternehmen könnten dazu wichtige Beiträge -zusammen mit vielen Partnern- leisten und an der Erhöhung von Qualität und Effizienz der Patientenversorgung mitwirken. Dies würde den patientenrelevanten und damit auch den gesamtgesellschaftlichen Nutzen deutlich steigern.
Was wird die größte Herausforderung für Roche in den nächsten Jahren sein?
Versorgungsdaten (so genannte Real Word Data) strukturiert zu erfassen und zu nutzen, eröffnet allen Beteiligten des Gesundheitssystems einen faktenbasierten Mehrwert in der medizinischen Versorgung. Die Verknüpfung molekulardiagnostischer Methoden mit Daten aus Labor, Bildgebung und weiteren Quellen kann uns helfen, die von uns vorangetriebene „Personalisierte Medizin“ auszubauen und gleichzeitig nutzbare Daten aus der Versorgung für zukünftige Entscheidungen zu generieren. Die Beschleunigung des Wissenszuwachses können wir damit noch einmal auf ein neues Niveau heben. Dieses Ziel gemeinsam umzusetzen und das Thema “Gesundheit” konsequent vom Patienten heraus zu denken, sehe ich als größte Herausforderung, aber auch als größte Chance für Roche, um die Zukunft der Medizin zusammen mit Partnern mitzugestalten.
Beitrag vom 23. Juli 2020
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