Das deutsche Gesundheitswesen gilt trotz überdurchschnittlich hoher Ausgaben und guter Qualität als innovationsfeindlich. So erfolgt zwar einerseits z. B. die Einführung neuer pharmazeutischer Produkte im internationalen Vergleich relativ schnell und EU-weit sogar führend durch die Erstattbarkeit ab Tag der Zulassung, andererseits bleiben jedoch Prozessveränderungen und Strukturveränderungen sowie der Einsatz digitaler Lösungen hinter anderen Ländern zurück. Daran haben auch umfangreiche Initiativen, beispielsweise im Rahmen des Innovationsfonds, oder zahlreiche Gesetzesänderungen während der letzten Jahre wenig geändert, im Gegenteil, wir sind zB bei Rankings zu klinischen Studien stetig abgefallen. Das vorliegende Papier soll daher mögliche Problembereiche im Innovationsprozess skizzieren und Aufgaben für eine „Zentrale Innovationskommission für Gesundheit“ und eine nachgelagerte „Agentur für Innovation im Gesundheitswesen“ ableiten.
Das deutsche Gesundheitswesen gilt trotz überdurchschnittlich hoher Ausgaben und guter Qualität als innovationsfeindlich. So erfolgt zwar einerseits z. B. die Einführung neuer pharmazeutischer Produkte im internationalen Vergleich relativ schnell 1 , andererseits bleiben jedoch die Forschung und Entwicklung in der pharmazeutischen Industrie sowie Prozessveränderungen und Strukturveränderungen und damit auch der Einsatz digitaler Lösungen hinter anderen Ländern zurück. Sinkende Patentanmeldungen, eine sich im Vergleich zu den Spitzenländern ausweitende Lücke der F&E Intensität, ein hoher Anteil im Ausland erbrachter Forschungs- und Entwicklungsleistungen sowie eine sinkende Tendenz von ausländischen F&E-Investitionen in Deutschland zeigen, dass die Bedeutung von Deutschland als Forschungsstandort in der pharmazeutischen Industrie zurückgeht 2 . Daran haben auch umfangreiche Initiativen, beispielsweise im Rahmen des Innovationsfonds, oder zahlreiche Gesetzesänderungen während der letzten Jahre wenig geändert.
Vielmehr nimmt die Bedeutung der Defizite des Innovationsstandortes Deutschland im Zuge der Entwicklung und Einführung von Innovationen mit hohem Innovationsgrad zu. Radikale Innovationen (oft auch als disruptiv und transformativ bezeichnet) grenzen sich durch spezifische Eigenschaften ihrer Technologie, der Markteffekte, der notwendigen Ressourcen und institutionellen Rahmenbedingungen von inkrementellen Innovationen ab 3 . Z.B. sehen sich neuartige Zell- und Gentherapien (Cell and Gen Thearpies, CGTs) als radikale Innovationen mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert 4 :
Entwicklung radikal neuartiger Technologien (z.B. neuartige Funktionen des genetic engineering oder Ansätze der Gensequenzierung) und damit verknüpfter IT Plattformen (z.B. zur Etablierung einrichtungsübergreifender Prozesse und Analysen)
neue Definitionen des Nutzens für die Patient*innen und die Gesellschaft (z.B. durch den Fokus auf seltene Erkrankungen, langfristiger Gesundheitseffekte, höhere Bedeutung von PROMs),
Notwendigkeit neuer Finanzierungs- und Preismodelle (z.B. Annuitäten- und Risk Sharing Modelle für hochpreisige Medikamente) sowie neue Formen der intersektoralen Zusammenarbeit (z.B. für das Schaffen der „real world evidence“ und der Anbindung der ambulanten Versorgung an spezialisierte Zentren) und Zusammenarbeit von Leistungserbringern und Herstellern (z.B. für die Sicherstellung effizienter Logistik und telemedizinischer Ansätze)
Notwendigkeit angepasster Regularien für Nutzenbestimmung, Zulassung und Erstattung (z.B. in Fortentwicklung des AMNOG 5 ) sowie kollektive Anstrengungen zur Sicherstellung der Akzeptanz in Gesellschaft, Politik und Verwaltung.
Die Bewältigung dieser Herausforderungen stellt die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie und des Gesundheitswesens im Innovationsprozess vor große Probleme. Deutschen pharmazeutisch-biotechnologischen Unternehmen drohen im internationalen Vergleich Nachteile bei der Entwicklung neuartiger CGTs, wenn z.B. Datenschutzbedenken, einen breiten Datenzugang für klinische Studien und das Monitoring der real world evidence behindern. Gleichzeitig beruhen neuartige Technologien wie CGTs auf den Erkenntnissen der Grundlagenforschung und damit auf effizienten Transferprozessen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft 6 , mit entsprechenden Defiziten in Deutschland. Nicht zuletzt scheitert dabei der Transfer radikal neuartiger und damit stark unsicherer und nur langfristig am Markt verwertbarer Technologien an dem sehr begrenzten Zugang zu Venture Capital und vergleichbaren Finanzierungsquellen. Das vorliegende Papier soll daher mögliche Problembereiche im Innovationsprozess im Gesundheitswesen skizzieren und Aufgaben für einen „Zentralen Innovationskommission“ und einer nachgelagerten „Agentur für Innovation im Gesundheitswesen“ ableiten.
Das Papier nimmt eine systemische Sichtweise der Implementierung von Innovationen im Gesundheitswesen ein und fokussiert Innovationsdefizite und notwendige Unterstützungsbedarfe relevanter Stakeholder im Gesundheitswesen. Dabei wird die Rolle der Gesundheitspolitik, der Selbstverwaltung, der Gesundheitsdienstleister*innen sowie der Patient*innen betrachtet. Das Papier betrachtet die Gesundheitsversorgung in Deutschland und lässt daher europäische Perspektiven, zum Beispiel der Medizinprodukteregulation, und notwendige Maßnahmen der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie selbst weitestgehend außer Betracht.
Die Gesundheitspolitik übt über gesetzliche Regelungen zur Zulassung und Vergütung medizinischer Innovationen und durch direkte finanzielle Anreize großen Einfluss auf die Entwicklung und Einführung von Innovationen aus. Von den politischen Akteuren und Ministerien wird die Relevanz der Überwindung von Innovationsbarrieren durchaus erkannt, aber immer noch zu wenig forciert. Große Defizite entstehen durch die Fokussierung innovationsfördernder Maßnahmen auf einzelne Ressorts sowie durch Abstimmungsprobleme zwischen der Bundesebene, der Ebene der Bundesländer und den Kommunen.
Ziel der Gesundheitspolitik ist es, die Rahmenbedingungen für eine bestmögliche Förderung der Gesundheit der Bevölkerung zu definieren. Durch die Fokussierung auf die Aufgabenschwerpunkte und Interessen einzelner Ressorts, insbesondere des Bundesministeriums für Gesundheit, kommt es jedoch zu Abstimmungsdefiziten im Innovationsprozess. Die Gesundheitsversorgung und noch stärker die Prävention sind jedoch nicht nur durch das Bundesministerium für Gesundheit beeinflusst. Vielmehr sollten die Beiträge anderer Ressorts, wie beispielsweise der Bundesministerien für Bildung und Forschung, Arbeit und Soziales, Wirtschaft und Klimaschutz, Senioren, Frauen und Jugend sowie Ernährung und Landschaft mit in Betracht gezogen werden. Heute besteht der Eindruck, dass Innovationsinitiativen selbst zwischen inhaltlich im engen Zusammenhang stehenden Arbeitsbereichen, wie der stationären und ambulanten medizinischen Versorgung, der Pflege, der Rehabilitation sowie der Erbringung von Leistungen des Heil- und Hilfsmittelkatalogs, zu wenig koordiniert sind. Noch gravierender sind die Defizite bei auf die Verbesserung der Prävention abzielenden Maßnahmen. Auch das oben skizzierte Beispiel der Einführung neuartiger CGTs ist von Maßnahmen unterschiedlicher Ressorts abhängig, um z.B. die Rahmenbedingungen von Start-ups, dem Verbraucher*innen- und Datenschutz und die Finanzierung im Gesundheitswesen aufeinander abzustimmen. Impulse für die Forschung und Innovation sollten daher ressortübergreifend initiiert und koordiniert werden.
Die föderale Struktur in Deutschland bedingt zudem die Mitwirkung mehrerer Politikebenen in allen Phasen der Forschung und Innovation bis hin zur Umsetzung konkreter Maßnahmen. Resultat sind erhebliche Abstimmungskosten zwischen Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie ein häufig zu beobachtendes „Herumreichen“ der Verantwortung für Probleme und Verzögerungen in der Durchsetzung von Innovation. Zudem sind finanzielle Anreize für Innovationen auf den Ebenen widersprüchlich definiert und die bestehenden Fördermöglichkeiten (inkl. der EU) sind wenig aufeinander abgestimmt. Die mangelnde Fähigkeit, strukturelle Veränderungen in der Versorgungslandschaft durchzusetzen, ist nur ein Ausdruck dieser Zielkonflikte zwischen Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Die aktuell diskutierte verstärkte Nutzung von Experimentierklauseln und Reallaboren 7 könnte Lösungsmöglichkeiten eröffnen, um das Geflecht der Zuständigkeiten und Maßnahmen zu entwirren und gut abgestimmte Programme zur Einführung komplexer und an regulative Grenzen stoßende Innovationen (wie z.B. CGTs) zu entwickeln und zu erproben. Notwendig ist dabei jedoch ein Denken der Reallabore in allen Dimensionen – regulativ, finanziell und organisatorisch.
Eine Besonderheit des deutschen Gesundheitswesens ist die starke Rolle der Selbstverwaltung, welche zum Beispiel über den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) maßgeblich die Innovationstätigkeit in Deutschland beeinflusst. Ferner kommen den diversen Selbstverwaltungs-Strukturen u.a. im vertragsärztlichen Bereich, im Bereich der stationären Versorgung, der Ärzteschaft sowie zunehmend auch der weiteren Gesundheitsberufe eine hohe Bedeutung zu. Durch die Mitwirkung aller relevanten Stakeholder werden zwar multidimensionale Zielsetzungen der Akteure beachtet, gleichzeitig ergeben sich dadurch erhebliche Schwierigkeiten bei Innovationen, die den Status quo infrage stellen. Diese Innovationen mit höherem Innovationsgrad haben sehr heterogene Einflüsse auf die unterschiedlichen Stakeholder. Zielkonflikte behindern zum Beispiel eine Verlagerung von stationären Leistungen in den ambulanten Bereich, wenn dadurch wirtschaftliche Interessen der Krankenhäuser negativ tangiert werden. Die Selbstverwaltung fördert - wenn auch nicht immer gesetzlich vorgeschrieben - die Fokussierung auf den Konsens aller relevanten Stakeholder und wird daher radikalere Innovationen häufig nicht unterstützen. Zudem besteht eine große Abhängigkeit von lokalen, häufig auf Ebene der Länder verankerten Entscheidungen. Da zeigt sich z.B. bei den lokal unterschiedlichen Verhandlungen über die Nutzung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUBs). Ausgeprägte Pfadabhängigkeiten sind die Folge. Diese werden durch die gelebte Arbeitsteilung und Hierarchie zwischen den Gesundheitssektoren noch verstärkt, da jeder Sektor für sich Spezialisierungsvorteile nutzt und die Abstimmung zwischen den Sektoren, zwar häufig dysfunktional, jedoch langjährig gelebt ist. Diese Pfadabhängigkeit hat besonders starke Auswirkung auf Innovationen, welche die intersektorale Zusammenarbeit fördern und Rollen und Ressourcenverteilungen zwischen den Akteuren neu definieren wollen. Das trifft nicht zuletzt auf den Großteil der Innovationen im digitalen Bereich (inkl. der KI) sowie auch auf Innovationen im Kontext der personalisierten Medizin und damit insbesondere auch den CGTs zu.
Gesundheitsdienstleister*innen, wie z. B. Krankenhäuser müssen kontinuierlich ihre Prozesse und Gesundheitsdienstleistungen an die sich verändernden Patient*innenbedarfe, medizinischen und medizintechnischen Möglichkeiten, regionalen Marktbedingungen, Arbeitsmärkte und regulativen Rahmenbedingungen anpassen. Die Fähigkeiten der Krankenhäuser, Innovationsaktivitäten erfolgreich zu initiieren, durchzuführen und in die Versorgungsrealität zu implementieren bestimmen deren Erfolg maßgeblich mit und tragen direkt zur nachhaltigen Verbesserung von Effizienz und Qualität im Gesundheitswesen bei. Dabei darf sich diese Innovationsfähigkeit nicht nur auf einen Ausschnitt der Innovationstätigkeit (z. B. Digitalisierung) fokussieren, sondern muss die Innovationstätigkeit breit erfassen, um alle Stellhebel für die Verbesserung der Versorgung abzubilden. Dazu zählen die Entwicklung und Implementierung von Innovationen unterschiedlichen Innovationsgrades in folgenden Bereichen:
patientennahe Prozesse (z. B. Neustrukturierung der Notaufnahme oder Ambulanz),
patientenferne Prozesse (z. B. digital unterstützte Medikamenten- oder Laborlogistik),
einrichtungsübergreifende Prozesse (z. B. Entlassmanagement),
medizinische Diagnose- und Behandlungsformen (z. B. neue auf CGTs beruhenden Verfahren oder neue OP-Techniken) sowie
nichtmedizinische Dienstleistungen (z. B. Hygiene und Schulungen).
Zur Erfüllung dieser neuen Zwecke bedarf es oft neuartiger Mittel, wie neue Medizintechniken, digitale und physische Infrastrukturen, Organisationsveränderungen und einen Kompetenzaufbau. Es wird deutlich, dass Innovationen mehr als die reine Umsetzung der von außen an den Gesundheitsdienstleister herangetragenen pharmazeutischen oder medizinisch- technischen Neuerungen umfassen. Ein Fokus auf die Förderung von Prozessinnovationen hilft beispielsweise dem Krankenhaus, seine Leistungen effizient zu erbringen, eine hohe medizinische Qualität zu bieten, die Liegezeiten zu optimieren und die Zufriedenheit der Patient*innen und Mitarbeitenden zu erhöhen.
Innovationsprojekte von medizinischen Leistungserbringern stehen jedoch vor besonderen Herausforderungen. Nicht zuletzt definieren berufliche Hierarchien und Abgrenzungen der Professionen im Gesundheitswesen implizite und explizite Regeln der beruflichen Sozialisation, die notwendige Kooperation und Interdisziplinarität behindern. Mit der Abgrenzung und Spezialisierung der Fachabteilungen geht zudem eine Tendenz zum Silodenken einher. Dies birgt die Gefahr, dass die strategischen Ziele in den Hintergrund treten und der an den Patient*innen ausgerichtete Versorgungsprozess aus den Augen verloren wird. Darüber hinaus kostet es aus Sicht der Betroffenen viel Zeit, Veränderungen zu initiieren und zu gestalten. Zeit für die eigentliche Patient:innenversorgung fehlt jedoch bereits heute. Diese Herausforderungen nehmen in einrichtungsübergreifenden Prozessinnovationen noch zu, da die Interessen von rechtlich und wirtschaftlich nicht nur eigenständigen, sondern auch in teilweiser Konkurrenz zu den Krankenhäusern stehenden ambulanten und stationären Einrichtungen beachtet werden müssen.
Trotz der großen Bedeutung von Innovationen ist das Innovationsmanagement, das heißt die systematische und gezielte Gestaltung, Planung, Steuerung und Kontrolle von Innovationsprozessen, in Krankenhäusern und noch mehr bei anderen Gesundheitsdienstleistern bisher eher gering ausgeprägt. Beispielsweise scheitern zahlreiche Initiativen zur Steigerung der Innovationskraft medizinischer Leistungserbringer und zur Einführung von Innovationen in das Gesundheitswesen an einer mangelnden nachhaltigen Implementierung. Dazu zählen u.a. Initiativen zur Förderung der Digitalisierung von Krankenhäusern im Sinne des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) oder Aktivitäten zur Förderung einer sektorenübergreifenden Versorgung und zum Entlassmanagement (im Sinne des SGB V §140 und SGB V §39). Auch Vorhaben, die im Innovationsfond angestoßen werden, treffen oft auf mangelnde Innovationskompetenz im Gesundheitswesen, die eine erfolgreiche und nachhaltige Implementierung der Innovationen behindert.
Patientinnen und Patienten sind zwar Adressat und Nutznießer von Innovation im Gesundheitswesen, haben aber bis dato eine schwache Rolle im Zuge der Initiierung, Gestaltung, Entwicklung und Implementierung konkreter Innovationen. Das zeigt sich unter anderen auch in der nur beratenden Funktion von Patient*innenvertretungen im G-BA sowie in den nur sehr wenigen Beispielen von Krankenhäusern und Industrieunternehmen die Patient*innen nicht nur rein symbolisch sondern substantiell zum Co-Produzent der Innovation machen. Ergebnis ist, dass die Kompetenz der breiten Bevölkerung in der Definition von Innovationsprioritäten nicht genutzt wird, spezifische Bedürfnisse zum Beispiel von vulnerablen Gruppen wie behinderte Menschen und Migrantinnen wenig Beachtung finden sowie die Bevölkerung zu wenig eingebunden wird um konkrete Prozess- und Dienstleistungsinnovationen im Gesundheitswesen voranzutreiben. Letztendlich resultiert die mangelnde Berücksichtigung von Interessen von Patient*innen auch in Fehlanreizen, welche die Qualität der Versorgung und das Erleben der Versorgung durch die Patienten (PROMs und PREMs) zu wenig priorisiert. Gerade in jüngerer Zeit richten sich jedoch erste Initiativen auf das verstärkte Empowerment von Patient*innen und deren stärkere Einbindung in Diagnose und Behandlungsprozesse (shared decision making). Dies geschieht häufig auch im Zuge digitaler Innovationen, die ohne die enge Einbindung von Patient*innen nicht umsetzbar sind.
Ausgehend von den oben nur angerissenen Innovationsbarrieren sollte es Ziel einer “Zentralen Innovationskommission für Gesundheit” sein, die Innovationskompetenz der Gesundheitsdienstleister*innen zu erhöhen, um die Entwicklung und Implementierung von Innovationen zu beschleunigen und effektiver zu gestalten. Die Innovationskommission sollte zusätzlich zu den bestehenden Strukturen auf europäischer und nationaler Ebene tätig sein. Dabei sollte sie so angelegt sein, dass die Zuständigkeiten einzelner Ministerien und die Aktivitäten des G-BA sowie die Angebote der Selbstverwaltung und Fachverbände ressortübergreifend integriert werden. Nur so kann das aktuelle Silodenken überwunden und Pfadabhängigkeiten durchbrochen werden. Die zentrale Innovationskommission sollte zwei wesentliche Ansätze verfolgen, die im Folgenden kurz erläutert werden:
Etablierung einer Missionsorientierung in der Gesundheits- und Innovationspolitik 8 und
Etablierung einer Agentur für Innovation im Gesundheitswesen, die die Mission in Strategien und konkrete Handlungsfelder „übersetzt“ und die Innovationskompetenz durch konkrete Unterstützungsangebote für die in den Innovationsprozess einbezogenen Stakeholder steigert.
Im Einklang mit den Empfehlungen der Expertenkommission für Forschung und Innovation (EFI) sollte die Innovationskommission die Rolle von Missionsteams zur Realisierung der Missionen zur Steigerung der Innovationen im Gesundheitswesen einnehmen. Entsprechend sollten die Ministerien prominent z.B. auf Ebene der Staatssekretär*innen eingebunden sein. Aufgrund der besonderen Stellung der Selbstverwaltung und föderaler Strukturen sollten diese ebenso wie Vertreter*innen der Wissenschaft, Industrie und Patient*innen eingebunden werden. Ferner ist es notwendig die Innovationskommission inhaltlich von komplementären Strukturen abzugrenzen, inkl. der Agentur für Sprunginnovationen (SPRIND), dem Innovationsausschuss des G-BA und auch dem von der EFI geforderten Regierungsausschuss für Innovation und Transformation.
Der Begriff der Missionsorientierung hat in den letzten Jahren vor allem in die Bundespolitik Einzug gehalten. Unter Missionen sind langfristige Zielsetzungen zu verstehen, die auf einem breiten Konsens beruhen und die unabhängig von bestimmten Legislaturperioden oder Amtszeiten verfolgt werden sollten. So wurden in der Hightech Strategie 2025 unter Federführung des BMBF in einem TOP-down-Ansatz 12 Missionen definiert, die zum Teil sehr vage und breit formuliert waren wie „Krebs bekämpfen“ und „Forschung und Versorgung digital vernetzen – für eine digitale Medizin“. Missionen sind jedoch idealerweise so zu formulieren, dass sie zu umsetzbaren Strategien führen und die Zielerreichung der Mission messbar ist. Aus den Missionen können konkrete strategische Zielsetzungen abgeleitet werden. Diese müssen einen Zeitbezug haben, messbar und realistisch sein. Der Zeithorizont sollte sich an der Zielsetzung der Missionen und nicht an der Dauer von Legislaturperioden oder Amtszeiten orientieren. Die Zielerreichung sollte regelmäßig geprüft werden.
Entscheidend bei der Verfolgung von Missionen ist, dass die jeweils leitende Organisation, sei es die Bundesregierung, eine Landesregierung, oder auch die Selbstverwaltung, eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Ressorts, Referate, bzw. Service-Einheiten sowie eine aktive Einbeziehung von Akteur*innengruppen, Expert*innenrunden sowie Bürger*innen sicherstellt. Daher sollte die Innovationskommission als politisches Gremium auf Ebene der Bundesregierung überministerial, z. B. im Auftrag des Bundeskanzleramtes oder zumindest mit enger Einbindung aller Ministerien, institutionalisiert werden.
Um diesen Politik- und Governance-Ansatz erfolgreich umsetzen zu können, ist agiles (Politik- bzw. Verwaltungs-) Handeln erforderlich. Dies bedeutet, dass im Sinne einer positiven Fehlerkultur (Politik- bzw. Verwaltungs-) Lernen stärker implementiert werden muss, sodass bei der Umsetzung von Missionen Zielanpassungen, Nachjustieren der Organisation und Maßnahmen, oder auch ein vollständiger Abbruch möglich sind und akzeptiert werden müssen. Basis dessen ist eine unabhängige Evaluation der gewählten Maßnahmen und etablierten Governance-Strukturen und Prozesse.
Reallabore können dazu dienen, innovative Ideen zu implementieren. Beispielsweise wird in ländlichen Regionen zukünftig eine Gesundheitsversorgung in den aktuellen Strukturen nicht mehr möglich sein. Es bedarf daher dringend alternativer Ansätze. Hier wären in ländlichen Räumen Reallabore, im Sinne von Pilotregionen, für eine digitale Überwindung der bisherigen sektoralen Trennung und Arbeitsteilung von ärztlichen und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen vorstellbar. Das schließt die umfassende Ermächtigung der Akteur*innen – unter Wahrung der Qualität – und eine radikale Anpassung des Vergütungssystems ein. Auf Ebene der Aus- und Weiterbildung könnten Reallabore z. B. für neue Studieninhalte und Lehrformate geschaffen werden, ohne dass diese in langjährigen Verfahren durch sämtliche Gremien bewilligt werden müssen – zumal bereits heute Regeln der ärztlichen Weiterbildung oft nicht eingehalten werden können.
Etablierung einer Agentur für Innovation im Gesundheitswesen
Zusätzlich zur primär politisch und regulierend tätigen Innovationskommission sollte durch diesen eine Kommission für Innovationen im Gesundheitswesen beauftragt werden. Dies könnte analog zur Agentur für Sprunginnovationen erfolgen. Eine gleichzeitig an den zukünftigen Bedürfnissen der Gesellschaft sowie der Gesundheitswirtschaft und -wissenschaft ausgerichtete Agentur sollte den Ansätzen einer „Responsible Research and Innovation“ folgen. Entsprechend des auch international etablierten AIRR Schemas sollten folgende Aufgabenbereiche adressiert werden:
A: Antizipation potentieller und realisierter Effekte von Forschung und Innovation. Hier liegt neben der Identifikation langfristiger technologischer Trends und der Ableitung von Roadmaps ein Fokus auf der Identifikation nicht intendierter Effekte, welche bereits früh im Forschungs- und Innovationsprozess Berücksichtigung finden müssen.
I: Inklusion heterogener Stakeholder in den Forschungs- und Innovationsprozess. Dies erfordert die Etablierung von interdisziplinären Forschungs- und Transferkooperationen sowie Innovationsökosystemen unter Einbezug einer Co-Creation gemeinsam mit Forschung, Industrie, Patient*innen und Gesundheitsversorger*innen aller Sektoren des Gesundheitswesen, inkl. der Prävention.
R: Reflexion unterschiedlicher Interessen. Die Auseinandersetzung mit Interessen von Stakeholdern sowie komplexen und nicht intendierten Effekte von Innovationen erfordert neue Anreize, Führungsansätze, neue Kommunikationsinstrumente und nicht zuletzt auch einen kulturellen Wandel aller Beteiligten.
R: Responsiveness verankern. Anpassungsfähige Wirtschafts- und Wissenschaftsorganisationen benötigen eine ausgeprägte Kompetenz für die Gestaltung der Innovations- und Transformationsprozesse. Damit ist auch die Veränderungsfähigkeit und deren Agilität der Gesundheitsversorger*innen und der politischen Akteur*innen gemeint.
Die Agentur für Innovationen im Gesundheitswesen hat den Auftrag, Strategien für die Zukunft des Gesundheitswesens unter Beachtung der AIRR Prinzipien zu entwickeln und umzusetzen. Die erfolgt im Rahmen dedizierter Strategieprojekte unter Einbindung der Forschung und Praxis. Für diese Projekte bedarfs es eines entsprechenden Budgets, welches durch die Agentur selbst zu administrieren ist. Die Umsetzung der Strategien erfolgt primär im Rahmen der bestehenden Förderinstrumente z. B. des G-BA und der Bundes- und Landesministerien und kann durch die formale Etablierung von Reallaboren profitieren. Zu diesem Zweck sollte die Agentur an der Definition der Bekanntmachungen und Förderrichtlinien sowie an der Evaluation von Maßnahmen wie den Reallaboren mitwirken können. Zusätzlich sollte erwogen werden, regionale Reallabore auch durch die Agentur selbst finanziell und organisatorisch zu fördern.
Die Maßnahmen der Agentur für Innovationen im Gesundheitswesen bedürfen einer unabhängigen Begleitforschung, da die Wirkung der Instrumente und die Erfolgsfaktoren unklar sind. Damit wird die Agentur selbst zum Instrument der Aktionsforschung, um Räume für eine systematische Reflexion über Praktiken zu schaffen, die verbessert oder sogar neu ausgerichtet werden müssen. Die Agentur greift durch praktische Interventionen (z. B. durch das Fördern von regionalen Reallaboren und Innovationsprozessen in Gesundheitsorganisationen) in das Geschehen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein und bekommt so anregende und auch korrigierende Feedbacks.
Für die Überwindung von Innovationsbarrieren und zur strukturierten Sicherung des Innovationserfolges hat sich in den letzten Jahren in fast allen Branchen und Unternehmen aller Größen das Innovationsmanagement als Managementfunktion einzelner Innovationsprojekte und zur Steigerung der Innovationsfähigkeit der gesamten Organisation etabliert und bewährt. Es besteht jedoch eine erhebliche Unsicherheit, welche Ansätze und Erfahrungen des Innovationsmanagements aus anderen Industrien auf Gesundheitsversorger wie z. B. Krankenhäuser übertragbar sind und wie diese verbessert werden können. Aktuell existiert kein integriertes Innovationsmanagement-Modell sowie ein daran orientiertes Assessment- Instrument, das die spezifischen Rahmenbedingungen und Anforderungen von Gesundheitsversorgern adressiert. Zwar erheben Benchmarking Ansätze verschiedene Organisationsaspekte, z. B. zum Qualitätsmanagement und auch zur Evaluierung des Reifegrads der Krankenhäuser hinsichtlich der Digitalisierung nach § 14b KHG. Diese beleuchten Aspekte des Innovationsmanagements aber nur am Rande.
Eine breite empirische Evidenz in vielfältigen Branchen belegt die erfolgskritischen Elemente eines professionellen Innovationsmanagementsystems. Dieses System strukturiert Innovationsmanagement in zwei Hauptdimensionen: Auf Organisationsebene geht es dabei um Definition und Implementierung von Innovationsstrategien, der Etablierung von organisatorischen Verantwortlichkeiten und Prozessen für Innovationen sowie die Förderung einer Innovationskultur. Diese Führungs- und Governance-Aspekte schaffen den Rahmen, in dem individuelle Innovationsvorhaben von einer systematischen Nutzung von Methoden zur Initiierung, Entwicklung und Einführung von Prozess-, Dienstleistungs- und Produktinnovationen innerhalb der Organisation und im Gesundheitsmarkt profitieren. Das Innovationsmanagement bildet damit das Fundament für die nachhaltig bedarfsorientierte, effektive und effiziente Gestaltung des Gesundheitswesens.
Gesundheitsversorger profitieren von einem professionellen Innovationsmanagement, indem (1) die Strategie, Kultur und Organisation Innovationen gefördert und unterstützt wird, (2) Potenziale rechtzeitig identifiziert und in Konzepte umgewandelt werden können, (3) Bedarfe (z. B. eine stärkere Patientenorientierung oder spezifischen Indikationsfelder) identifiziert und adressiert werden können, (4) Innovationsbarrieren erkannt und verhindert bzw. überwunden werden können, so dass, (5) z. B. Implementierungen von Innovationen reibungsarm und ressourcenschonend umgesetzt werden können. So begünstigt das Innovationsmanagement die schnellere Translation von wissenschaftlichen Erkenntnissen, z. B. neuen Behandlungsmethoden, neuer Diagnostik und neuer Medizintechnik in die Versorgungsrealität. Innovationen kommen schneller bei den Leistungserbringer*innen und Patient*innen an. Prozessoptimierungen und bessere Versorgungsabläufe schlagen sich potenziell in einer Reduzierung der Leistungsinanspruchnahme der gesetzlichen Krankenversicherung nieder.
Ein am Kontext Gesundheitswesen ausgerichtetes Innovationsmanagementsystem und Assessment-Instrument ist der Start zur gezielten Professionalisierung des Innovationsmanagements. Gesundheitsdienstleister*innen, wie z. B. Krankenhäuser können auf diese Weise geeignete Strukturen, Prozesse und Tools für das Innovationsmanagement einführen. Im ambulanten Sektor bietet es sich aufgrund der geringem Unternehmensgröße an, derartige Managementkompetenzen in Kooperationen aufzubauen. Allerdings existiert bis dato weder ein umfassendes Verständnis zum Ziel, zu den Instrumenten und zur Wirkung des Innovationsmanagement im Gesundheitswesen – national und international. Gleichzeitig liegt auch international kein validiertes Assessment-Instrument vor, das die relevanten Elemente eines ganzheitlichen Innovationsmanagement erfasst und auf diese Weise Initiativen zur Optimierung des Innovationsmanagement anstoßen kann.
Aufgabe der Agentur für Innovationen im Gesundheitswesen ist es daher, ein Innovationsmanagement-Standard für Gesundheitsversorger zu entwickeln und daraus ein Assessment-Instrument abzuleiten und zu etablieren. Diese sollte Basis einer Zertifizierung in Ergänzung bestehender Qualitätsmanagement-Zertifizierungen im Gesundheitswesen sein. Gesundheitsdienstleister erhalten damit die Möglichkeit, zielgerichtet Kompetenzen aufzubauen und ihr Innovationsmanagement individuell für die Verbesserung der Versorgung zu optimieren. Dies wird eine bedarfsgerechte, effiziente Implementierung von Innovationen befördern und die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden verbessern. Die Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung kann das Instrument nutzen, um empirische Evidenz für die Wirkung des Innovationsmanagement auf Qualität und Effizienz der Versorgung zu generieren. Dadurch entsteht die Basis für evidenzbasierte Entscheidungen über eine Regulation notwendiger Innovationsmanagement-Kompetenzen der Versorgungspraxis. Infolge dessen könnten auch Anforderungen als Zugangsvoraussetzungen zu Förderprogrammen wie dem Innovationsfond definiert werden.
Die Aufgaben der Agentur sind auf die Entwicklung und kontinuierliche Verbesserung des Innovationsmanagement Standards und des Assessments sowie auf die Etablierung der Zertifizierung ausgerichtet. Für konkrete Schulungs- und Beratungsangebote sollten die Gesundheitsversorger auf Marktakteure zurückgreifen, welche sich an den Standards der Zertifizierung ausrichten werden.
Kiel, August 2023
Quellenangaben
1 Bussgen, M., & Stargardt, T. 2022. Changes in launch delay and availability of pharmaceuticals in 30 European markets over the past two decades. Bmc Health Services Research, 22(1): 10.
2 Rammer, Christian, Marius Berger, Insa Weilage, Vivien-Sophie Gulden und Birgit Gehrke (2021), Innovationsindikatoren Chemie und Pharma 2021, Schwerpunktthema: Corona-Pandemie und Innovationen in Chemie und Pharma, Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI), Mannheim und Hannover
3 Schultz, C., Salomo, S., & Talke, K. 2013. Measuring new product portfolio innovativeness: How differences in scale width and evaluator perspectives affect its relationship with performance. Journal of Product Innovation Management, 30: 93-109.
4 Vgl. z.B. die Zusammenstellung bei Faulkner, E., Spinner, D. S., Ringo, M., & Carroll, M. 2019. Are Global Health Systems Ready for Transformative Therapies? Value in Health, 22(6): 627-641.
5 Bartol, A., Dressler, K., Kaskel, P. et al. Ten years of AMNOG from an oncological perspective: new horizons and continuing expansion. J Cancer Res Clin Oncol 149, 2637–2645 (2023).
6 Melnychuk, T., Schultz, C., & Wirsich, A. (2021). The effects of university-industry collaborations in preclinical research on pharmaceutical firms‘ R&D performance: Absorptive capacity‘s role. Journal of Product Innovation Management. 38 (3): 355–378.
7 https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeume-fuer-innovation-und-regulierung.html
8 Die Notwendigkeit einer Missionsorientierung zur besseren Koordination der Unterstützung von Forschung und Innovation wird u.a. von der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) im Gutachten 2023 gefordert. https://www.e-fi.de/fileadmin/Assets/Gutachten/2023/EFI_Gutachten_2023.pdf
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